Mit einem ultrakonservativen Familienmodell und Hetze gegen sexuelle Minderheiten versucht Kremlchef Putin den demografischen Niedergang Russlands aufzuhalten. Doch das Land verliert eine halbe Million Menschen pro Jahr – auch durch Putins Krieg gegen die Ukraine.

Eine Analyse
von André Ballin (dpa)
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von André Ballin (dpa) sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Grossfamilien sollen in Russland zur Norm werden – zumindest, wenn es nach Präsident Wladimir Putin geht. "Erinnern wir uns, dass viele russische Familien, unsere Gross- und Urgrossmütter sieben, acht oder mehr Kinder hatten. Lasst uns diese vortrefflichen Traditionen pflegen und wiederbeleben", sagte der 71-Jährige. Beim Weltkonzil des Russischen Volkes Ende November rief er die jungen Menschen in Russland dazu auf, mehr Kinder zu bekommen.

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Der seit fast einem Vierteljahrhundert regierende Putin sprach von "schwersten demografischen Herausforderungen", vor denen das Land stehe. In seiner Amtszeit hat sich die Bevölkerung Russlands nach Einschätzung des unabhängigen Demografieforschers Alexej Rakscha um etwa 6,5 bis 7 Millionen Menschen verringert. Dabei war Putin auch mit dem Ziel angetreten, den Schwund zu stoppen.

Derzeit seien es noch etwa 140 bis 140,5 Millionen inklusive der Krim, ohne 137,5 bis 138 Millionen, sagte Rakscha der Deutschen Presse-Agentur in Moskau. Und die Zahl werde weiter sinken. Bei anhaltendem Trend werde die Bevölkerung bis 2030 um weitere drei Millionen schrumpfen, prognostiziert er.

Zuwanderung aus dem armen Zentralasien

Dabei zeigen die Zahlen nicht das ganze Ausmass des Dilemmas. Russland hat in all den Jahren noch von einer starken Zuwanderung aus den armen Ex-Sowjetrepubliken profitiert – vor allem den zentralasiatischen Staaten Kirgistan, Tadschikistan und Usbekistan.

Nach der Einverleibung der ukrainischen Schwarzmeer-Halbinsel Krim 2014 kamen zudem 2,5 Millionen Bewohner hinzu. Ohne diese Effekte wäre der Bevölkerungsschwund noch deutlich grösser. Durch die Annexion der vier ukrainischen Gebiete Cherson, Donezk, Luhansk und Saporischschja im Zuge von Putins Angriffskrieg sei Russlands Bevölkerung noch einmal um fünf Millionen Menschen angewachsen, meldete Verteidigungsminister Sergej Schoigu Ende Dezember erfreut.

Dennoch ist eine alternde und schrumpfende Bevölkerung für Russland verheerend. Schon jetzt reichen die Arbeitskräfte im Land nicht aus. Die ungleiche Verteilung der Einkommen sorgt zudem dafür, dass ganze Landstriche veröden, besonders im Norden und Osten des Landes, den grossen Weiten Sibiriens. Auch aus militärstrategischer Sicht ist das für den Kreml gefährlich. Um den natürlichen Bevölkerungsrückgang auszugleichen, müssten nach einer Prognose der Demografen Waleri Jumagusin und Maria Winnik von der Moskauer Higher School of Economics bis ins Jahr 2100 jährlich zwischen knapp 400.000 und 1,1 Millionen Menschen zuwandern.

Russische Regierung traf bis 2015 Massnahmen zur Verbesserung

Durchschnittlich gebärt eine Frau in Russland weniger als zwei Kinder. Putin kann dabei nur bedingt als Vorbild für seine Enkelgeneration gelten, denn offiziell hat der Kremlchef selbst nicht sieben oder acht, sondern lediglich zwei Kinder.

Zeitweilig konnte Putin tatsächlich Erfolge verbuchen dank höherer Einkommen und grösserer sozialer Sicherheit. Darüber hinaus traf die russische Regierung bis etwa 2015 auch gezielt Massnahmen zur Verbesserung der demografischen Lage. Kindergartenplätze wurden geschaffen, das Gesundheitssystem verbessert, der Kampf gegen Alkoholismus und Tabakkonsum aufgenommen.

In jener Zeit habe Putin relativ effizient für die Steigerung der Geburtenraten und die Senkung der Sterberaten gesorgt, attestiert auch Rakscha. "Das Mutterkapital für das zweite und dritte Kind war die erfolgreichste Massnahme", sagt er. Dieser finanzielle Anreiz wirkte tatsächlich bei vielen Familien als Motiv für die Geburt eines zweiten oder dritten Kindes.

Doch ab 2015 begannen die Probleme der Demografiepolitik. Damals wurde das Mutterkapital das letzte Mal inflationsbedingt angehoben. 2020 legte Putin fest, das Mutterkapital solle schon bei der Geburt des ersten Kindes ausgezahlt werden. "Damit hat er die Senkung der Effektivität vorprogrammiert, die jetzt gen Null strebt", meint Rakscha. Denn für die Geburt des ersten Kindes seien finanzielle Faktoren viel weniger entscheidend.

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Soziale Lage hat sich verschlechtert

Zudem hat sich in den letzten zehn Jahren die soziale Lage der Russen drastisch verschlechtert. Schon die russische Annexion der Krim mit den darauffolgenden westlichen Sanktionen hat den Lebensstandard der Russen wieder gedrückt.

Die einsetzende Grossmachtpolitik Putins zielte mehr auf Territorien als auf das eigene Volk ab. Der 2022 begonnene Krieg gegen die Ukraine zwingt nicht nur Hunderttausende junge Männer an die Front – wobei viele von ihnen schon gefallen sind, sondern hat ebenso einen Exodus der Unzufriedenen hervorgerufen, die mit ihren Familien das Land verlassen haben. Insgesamt sind es Schätzungen nach mehr als eine Million, die zeitweise oder dauerhaft ausser Landes sind – auch wenn es keine verlässlichen Statistiken dazu gibt.

Die mit der Grossmachtpolitik einhergehende Rückbesinnung auf die sogenannten traditionellen Werte und konservative Familienbilder konnten den Geburtenrückgang nicht aufhalten. So versuchte der Kreml auch – angestachelt von der einflussreichen russisch-orthodoxen Kirche – mit Gesetzen gegen Schwule, Lesben und andere sexuelle Minderheiten "traditionelle" Familienwerte zu etablieren. Sich durch gesellschaftlichen Druck in eine heterosexuelle Beziehung zu begeben und Kinder zu zeugen, hat in Russland eine lange Tradition. Dies wird international von Menschenrechtlern als gesellschaftsfeindlich kritisiert, zu Bevölkerungswachstum führt es nicht.

Recht auf Abtreibung wird beschnitten

Das Gleiche dürfte sich nun mit den Beschränkungen für Abtreibungen wiederholen. Seit Monaten wird in verschiedenen Regionen des Landes das Abtreibungsrecht der Frauen beschnitten. Sei es das Verbot für Privatkliniken, solche Operationen durchzuführen, seien es Gesetze, die die "Verleitung zur Abtreibung" unter Strafe stellen. Es gebe weltweit in den letzten 50 Jahren aber kein Beispiel dafür, dass Abtreibungsverbote dauerhaft die Geburtenraten anhöben, verweist Rakscha auf die Statistik.

In diesem Jahr wird der natürliche Bevölkerungsrückgang seiner Schätzung nach bei einer halben Million Menschen liegen. Als Einwanderungsland hat Russland durch das imperiale Gehabe seiner Führung ebenfalls deutlich an Reiz bei den Nachbarvölkern verloren. Vor zwei Jahren nannte Putin den Bevölkerungsrückgang eins der drängendsten Probleme Russlands. Mit dem Abnutzungskrieg in der Ukraine hat er dieses Problem nur vergrössert. (dpa/tas)

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