Vor einem Jahr tötet Anis Amri zwölf Menschen. Fatal: Der Terrorist wurde zuvor intensiv überwacht, allerdings kam es seitens der Behörden zu Fehleinschätzungen. Er galt nicht als akut gefährlich. Eine relativ neue Methode soll nun Top-Gefährder entlarven – mit ersten, überraschenden Ergebnissen.
Der Messerangriff auf Polizisten in Hannover, die Axtattacke in einem Regionalzug bei Würzburg oder der LKW-Anschlag von Anis Amri auf einem Weihnachtmarkt in Berlin zeigen: Auch Deutschland bleibt von Anschlägen islamistischer Terroristen nicht verschont.
Und die Sicherheitsbehörden rechnen mit weiteren Anschlägen sogenannter Gefährder. Das sind Personen, denen schwere Straftaten wie ein Terroranschlag zugetraut werden.
Momentan sind nach Angaben von Sicherheitsbehörden etwa 720 Gefährder identifiziert, nicht alle von ihnen befinden sich auf freiem Fuss oder halten sich derzeit im Land auf. Wann ist ein Islamist gefährlich und wie gross ist das Risiko, das von ihm ausgeht?
Analysetool hätte Amris Gefahr erkannt
Um die Gewaltbereitschaft von Islamisten und das Risiko von Anschlägen einzuschätzen, können die Sicherheitsbehörden auf verschiedene Methoden zurückgreifen. Besonders einem neuen Bewertungssystem kommt nun grosse Bedeutung zu: Radar-iTE – iTE ist die Abkürzung für "regelbasierte Analyse potentiell destruktiver Täter zur Einschätzung des akuten Risikos – islamistischer Terrorismus".
Das System wurde Anfang 2015 gemeinsam mit Psychologen der Universität Konstanz entwickelt und im September 2016 fertiggestellt – also noch vor dem schweren Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Berlin. Dass es erst seit Sommer dieses Jahres bundesweit im Einsatz ist, liegt nach Angaben des BKA daran, dass die Behördenmitarbeiter zunächst geschult werden mussten.
Im Fall Anis Amri hätte das neue Modell womöglich den Anschlag verhindern können, berichten die "Süddeutsche Zeitung" (SZ), der NDR und der WDR weiter. Denn die vor dem Anschlag vorliegenden Daten von Amris seien mit Radar-iTE gegengeprüft worden. Anders als die Berliner Polizei hätte das Modell Amri in die höchste Kategorie – Rot (hohes Risiko) – eingestuft.
Anis Amri fuhr am 16. Dezember 2016 mit einem gestohlenen Lastwagen in eine Menschenmenge auf einen Berliner Weihnachtsmarkt. Zwölf Menschen starben, dutzende wurden verletzt.
Wie funktioniert Radar-iTE?
Für das BKA ist Radar-iTE ein geeignetes Instrument, um besonders gefährliche Radikale zu erkennen. Das Modell basiert auf einem Punktesystem sowie einer dreistufigen Risikoskala.
Ein Risikobewertungsbogen enthält 73 Fragen zur Sozialisation oder zur Einstellung zur Gewalt. Ein Sachbearbeiter beantwortet die Fragen mit "Ja", "Nein" oder "Nicht bekannt".
Die abgefragten Informationen beziehen sich dabei auf beobachtbares Verhalten und nicht etwa auf Merkmale wie die Gesinnung oder Religiosität einer Person. Auch nach "Schutzfaktoren" wie familiäre Bindungen, gute Integration oder sicherer Arbeitsplatz wird gefragt.
Die bewertete Person wird anschliessend einer dreistufigen Risikoskala zugeordnet. Sie unterscheidet in ein "hohes" (Rot), ein "auffälliges" (Orange) und ein "moderates Risiko" (Gelb).
Die Auswertungen werden an das BKA in Berlin geleitet und mögliche Massnahmen im Gemeinsamen Terrorismus-Abwehrzentrum (GTAZ) beraten.
Radar-iTE soll dabei helfen, die Überwachungsmassnahmen auf die relevanten Personen zu konzentrieren. Es kann immer dann zum Zuge kommen, wenn eine Mindestmenge an Informationen über einen Menschen vorliegt.
Aufbauend auf Radar-iTE soll das System Riskant entwickelt werden. Es soll "eine einzelfallorientierte Bedrohungsbeurteilung und individuelle Massnahmenberatung für die festgestellten Hoch-Risiko-Personen" ermöglichen.
Problem: unterschiedliche Polizeigesetze
"Dieses standardisierte Vorgehen ist Voraussetzung dafür, dass Personen, von denen ein erhöhtes Risiko ausgeht, priorisiert und mit den erforderlichen Massnahmen belegt werden – unabhängig davon, in welchem Bundesland sie sich aufhalten", sagte der Präsident des Bundeskriminalamtes Holger Münch auf der Herbsttagung des BKA.
"Es ist Voraussetzung für einen zielgerichteten und gebündelten Einsatz unserer polizeilichen Ressourcen", so Münch weiter. Allerdings gibt es ein Problem: Die Polizeigesetze in Bund und Ländern unterscheiden sich bei wesentlichen Ermächtigungsgrundlagen. Darauf machte Münch aufmerksam.
Ein Gefährder etwa, der in Bayern eine Fussfessel tragen muss und per Telefon überwacht wird, könne ungehindert nach Berlin umziehen. Die Berliner Polizei hingegen habe für solche Massnahmen nicht die notwendigen gesetzlichen Befugnisse, gab der BKA-Chef zu bedenken.
Vereinheitlichung der rechtlichen Grundlagen nötig
Angesichts der Gefahr, die von den Top-Gefährdern ausgeht, könne sich Deutschland "einen solchen rechtlichen Flickenteppich" nicht leisten. Eine Vereinheitlichung der Massnahmen zur Kriminalitätsbekämpfung erfordere daher eine Vereinheitlichung der rechtlichen Grundlagen.
Eine lückenlose Überwachung islamistischer Gefährder ist aus Sicht der Gewerkschaft der Polizei (GdP) kaum möglich. "Erstens sind einem solchen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte enge Grenzen gesetzt. Und zweitens setzt die Polizei für eine 24-Stunden-Observation rund 24 Beamte ein. Es fehlen also schlicht Kapazitäten und die rechtlichen Grundlagen", sagte der GdP-Bundesvorsitzende Oliver Malchow der "Heilbronner Stimme" vom Montag.
Überprüft wurden bis Ende November mittlerweile 205 Gefährder, wie "SZ", NDR und WDR berichten. Das Ergebnis: Offenbar geht von fast der Hälfte der Gefährder möglicherweise kein besonderes terroristisches Risiko aus.
Den Medienberichten zufolge landeten 96 Islamisten in der Kategorie "moderates Risiko" (Gelb), 27 in "auffälliges Risiko" (Orange) und 82 in der Rubrik "hohes Risiko" (Rot). Und es könnten nach Abschluss der gesamten Analyse noch weniger werden, berichtet "Spiegel Online".
(mit Agenturmaterial der dpa)
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