Der Schweizer Staatssekretär für Europafragen Roberto Balzaretti verhandelt derzeit unter Hochdruck mit Brüssel um die Bedingungen für ein Rahmenabkommen mit der EU. Wie schwierig dieser Job ist, wird ersichtlich, wenn man die Knackpunkte anschaut.
Die Verhandlungen zum institutionellen Rahmenvertrag zwischen der Schweiz und der EU gehen im Sommer in eine neue, "politische" Phase über. Bereits jetzt wird auf Diplomatenebene an den Details geschliffen. Viele inhaltliche Aspekte sind nach wie vor ungeklärt. Das Abkommen soll die Auslegung und Umsetzung wichtiger bilateraler Verträge und die künftigen Beziehungen CH-EU regeln. Konkret geht es für die Schweiz um drei scheinbar einfache Fragen:
● wie funktioniert das Abkommen in der Praxis?
● welche bestehenden bilateralen Verträge und somit welche Sektoren sind betroffen?
● welche sonstigen Geschäfte sind von den Verhandlungen abhängig?
Alles andere als einfach sind allerdings die Antworten darauf. Mit dem Anfang März angekündigten Schiedsgericht, das neu im Streitfall verbindlich urteilen soll, hat Bundesrat Cassis zwar schon viele Fragen zur Funktionsweise des Abkommens beantworten können (siehe Box).
Kontrovers aber bleibt, für welche Sektoren das Abkommen gilt und wie viele konkrete Änderungen die Schweiz an den betroffenen Verträgen vornehmen muss. Erschwerend kommt hinzu: alles ist miteinander auf jede erdenkliche Art verknüpfbar. Alles kann jederzeit hinterfragt werden. Nichts ist entschieden, bis alles entschieden ist.
Uneinig über Umfang und Inhalt
Von den über hundert bilateralen Verträgen, die zwischen der Schweiz und der EU bestehen, will die Schweiz fünf ins Abkommen aufnehmen, die EU sieben. Einig sind sich beide über die Sektoren Landwirtschaft, Land- und Luftverkehr, technische Handelshemmnisse und Personenfreizügigkeit.
Wie der Blick kürzlich berichtete, wünscht sich die EU ausserdem, das öffentliche Beschaffungswesen und das Freihandelsabkommen von 1972 in den institutionellen Rahmen zu stellen.
Der Grund: Kommt es bei Letzteren zu Streitigkeiten, liegt es an den Diplomaten beider Seiten in den sogenannten Gemischten Ausschüssen, diese zu lösen. Aber eine verbindliche Gerichtsbarkeit wäre von der EU auch in diesen Sektoren gewünscht.
Besonders ins Gewicht fällt der Streit um die roten Linien von Aussenminister Cassis, der die Verhandlungen im Namen des Bundesrates verantwortet. Vor allem die vom Bundesrat als unverhandelbar bezeichneten flankierenden Massnahmen zum Lohn- und Arbeiterschutz sind der EU ein Dorn im Auge. Diese Instrumente zu schwächen, ist aber für die Schweiz innenpolitisch kaum durchsetzbar.
Die Gewerkschaften ziehen dort ihre Verteidigungslinie, wie neulich die Kritik von SGB-Präsident Paul Rechsteiner ("der Bundesrat hat rote Linien beschlossen – und die gelten") gezeigt hat. Die EU andererseits hält die flankierenden Massnahmen für diskriminierend. Die achttägige Meldefrist für Handwerker und Bauarbeiter aus der EU beispielsweise verletze die Personenfreizügigkeit.
Andere Forderungen der EU stossen ebenfalls auf Widerstand. Die Schweiz wehrt sich dagegen,
● die Unionsbürgerschaft auch in der Schweiz anzuerkennen,
● Lastwagen mit über 40 Tonnen Gesamtgewicht die Durchfahrt zu genehmigen,
● staatliche Beihilfen in allen tangierten Sektoren umfassend zu verbieten. Die sind innenpolitisch aber fest verankert – von kantonalen Beteiligungen an Banken über Standortpolitik durch Steuererleichterungen für Unternehmen bis zu Subventionen für die Landwirtschaft.
Weitreichende Verkettungen
Nicht zuletzt hat diese europapolitische Weichenstellung auch zahlreiche Nebenwirkungen.
Wenn die Schweiz und die EU sich nicht einigen, drohen der Schweizer Wirtschaft ernste Konsequenzen. Lange blockierte Verhandlungen wie das Strommarktabkommen oder die von der EU auf ein Jahr angesetzte Anerkennungsfrist der Schweizer Börse sind vom Erfolg der Verhandlungen abhängig.
Besonders bei letzterer ist die Dringlichkeit nicht von der Hand zu weisen. Die Rechtsunsicherheit schade dem Finanzplatz und die Schweiz müsse die Börsenäquivalenz möglichst bald und dauerhaft hinkriegen, betonte Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann Ende April in Brüssel alarmiert. Einen Monat später doppelte Finanzminister Ueli Maurer nach: es gehe um das Überleben der Schweizer Börse. Wenn Brüssel nicht einlenke, müsse auch die Schweiz dieselbe Massnahme auf die EU anwenden und die EU-Handelsplätze ebenfalls nicht anerkennen.
Auch die Kohäsionsmilliarde für Osteuropa ist betroffen. Nach Jean-Claude Junckers unerwartetem Schachzug mit der Börsenfrist im vergangenen November drohte der Bundesrat zuerst, den Betrag nicht erneut zu sprechen. Obschon er die Überweisung von 1.3 Milliarden Franken über zehn Jahre schliesslich guthiess, wirkt die Verbindung zum Rahmenabkommen nach.
Parlamentarier von mitte bis rechts sehen in ihr eine verpasste Chance der Schweiz, Stärke zu markieren. SVP-Präsident Albert Rösti zum Beispiel sprach von einer inakzeptablen "Marktzugangsprämie". SP-Nationalrat Eric Nussbaumer hingegen bezeichnete die Zahlung als "schlüssige Verhandlungsstrategie".
Als wäre die Sache nicht schon innenpolitisch vertrackt, juristisch anspruchsvoll und zeitlich äusserst ambitioniert, könnte nun auch noch die Weltpolitik dazwischenfunken. Denn der momentane handelspolitische Schlagabtausch zwischen den USA und der EU könnte auf die Verhandlungen einwirken.
Bei den Ausgleichsmassnahmen gegen die USA hat die EU nämlich die Möglichkeit, für Drittstaaten schützende Ausnahmeregeln zu erarbeiten. Davon würde die Schweiz profitieren. Je grösser nun der Spielraum der EU, die Schweizer Unternehmen vor den Vergeltungsmassnahmen gegen die USA zu schützen, umso stärker der Effekt als mögliches Druckmittel.
Einfache Fragen, schwierige Antworten - und noch mehr Fragen. Innen- und Aussenpolitik, politische Grundsatzdebatten und juristische Fachdiskussionen vermischen sich. Und die Zeit drängt: da 2019 in der EU und in der Schweiz gewählt wird, streben die Verhandlungsparteien nach einer Lösung noch dieses Jahr.
Gleichzeitig wird die grösste Partei der Schweiz, die SVP, den Kampf gegen den Rahmenvertrag mit der EU ins Wahljahr 2019 tragen. Was auch immer die Schweizer Diplomaten aus Brüssel heimbringen – es wird ein Auftakt für Lärm im Bundeshaus.
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