Recep Erdogan spaltet sein Land: Für die einen ist der türkische Ministerpräsident als Begründer des Wirtschaftsbooms der Held des einfachen Arbeiters, für die anderen ein autoritärer "Sultan", der die Freiheiten der Menschen am Bosporus immer mehr einschränkt.

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Islam und Demokratie, konservativ und modern - viele Jahre galt Recep Tayyip Erdogan mit seiner Balance-Politik international als Hoffnungsträger. Er bescherte der Türkei politische Stabilität und wirtschaftlichen Aufschwung, wofür ihn seine Anhänger bis heute verehren. Geboren in einem armen Hafenviertel von Istanbul, brachte es Erdogan vom Strassenfussballer zum Bürgermeister seiner Heimatstadt und 2002 schliesslich zum Premierminister seines Landes.

Ein Mann, viele Widersprüche

Vor der Ära Erdogan hatte das kemalistische Militär in der Türkei grossen Einfluss, doch unter der Regierungspartei AKP hat sich im vergangenen Jahrzehnt ein Machtwechsel vollzogen. Erdogan entkräftete die Armee, stärkte die Marktwirtschaft und führte umfangreiche Reformen durch.

Er weiss genau um die besondere Rolle der Türkei zwischen Ost und West, zwischen dem politisch stabilen Europa und den Krisenländern im Nahen Osten. So versuchte er sich als Mittler zwischen den Regionen, aber auch zwischen den Kulturen und Religionen. Unter Erdogan wurde die Türkei 2005 zum offiziellen EU-Beitrittskandidat. Als erster türkischer Regierungschef entschuldigte er sich für das Kurden-Massaker von Dersim und gewährte ihnen deutlich mehr Rechte. Von nationalistisch gesinnten Türken wurde er für sein Engagement in der Minderheitenpolitik daraufhin als "Verräter" angesehen.

Der Hauptgrund für die grosse Popularität Erdogans in den letzten Jahren dürften seine wirtschaftlichen Erfolge sein. Bei seinem Regierungsantritt war die Türkei ökonomisch am Boden, innerhalb weniger Jahre entwickelte sie sich zu einem Boomland. Der Tourismus blüht. Istanbul ist zu einer Wirtschaftsmetropole und einem Zentrum für Kreative geworden.

Der Sultan von Ankara

Doch seit seinem deutlichen Sieg bei den Wahlen 2011 mit knapp der Hälfte der Stimmen glaubt Erdogan über fast grenzenlose Macht zu verfügen. Kritik an ihm und seinem Handeln duldet er nicht, auch nicht aus den eigenen Reihen.

Die Repression gegenüber seinen Gegnern brachte ihm schon viel Kritik ein. "Reporter ohne Grenzen" stuft das Land in der Rangliste der Pressefreiheit auf Platz 154 ein, hinter Ländern wie Russland oder dem Irak. Regierungskritische Journalisten und Gewerkschafter landen im Gefängnis. Über die aktuellen Proteste wird in den türkischen Medien kaum berichtet.

In seinen ersten beiden Amtszeiten baute Erdogan das Image als Vereiner der Welten zwischen konservativem Islam und moderner Demokratie auf. Doch nun greift er mit der Verankerung von religiösen Wertvorstellungen im Gesetz in das Leben vieler Menschen ein. So forderte er Frauen öffentlich dazu auf, mindestens drei Kinder zu bekommen. Als Abtreibungsgegner versuchte er vor den Protesten das sehr liberale Abtreibungsrecht in der Türkei stark einzuschränken. Er führte das Koransystem an den Schulen des traditionell laizistischen Landes ein. Auch den Verkauf und den Konsum von Alkohol schränkte er massiv ein.

Gerade die jungen Menschen fühlen sich von Erdogans Art der Staatsführung in den vergangenen Monaten bevormundet. Sie fürchten um ihre Freiheit und um ihre Rechte. Auch vielen Türken, die nach den islamischen Regeln leben, ist die neue Marschrichtung zu radikal. Manche Gegner befürchten sogar, dass Erdogan das Land nach seiner persönlichen Vision umbauen könnte.

Seinen Politikstil scheint sich Erdogan von Russlands Autokraten Wladimir Putin abgeschaut zu haben. Die Partei ist Erdogan, er will die Macht auf sich vereinen, er hat viele Ja-Sager um sich geschart. Seine Selbstherrlichkeit könnte ihn noch zu Fall bringen.

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