Recep Tayyip Erdogan stellt die Pressefreiheit so massiv infrage wie lange nicht - und bemüht sich gleichzeitig um einen schnellen Beitritt der Türkei in die EU. Das Verhalten des türkischen Präsidenten ist derzeit nur nachvollziehbar, wenn man einer ganz bestimmten Grundannahme folgt.
Wer in diesen Tagen die Politik von Recep Tayyip Erdogan verfolgt, der könnte schnell den Eindruck erlangen, dass der türkische Präsident für sein Land zwei komplett gegensätzliche Ziele verfolgt.
Da ist zum einen die wiederholte Forderung nach einem baldigen EU-Beitritt. Eine Beschleunigung der seit rund zehn Jahren laufenden Gespräche hatte Erdogan zum wichtigen Bestandteil einer Einigung in der Flüchtlingsfrage gemacht. Die Türkei will ein vollwertiges EU-Mitglied werden, war immer wieder aus Ankara zu vernehmen.
Und: Die Türken sind verärgert und fühlen sich hingehalten angesichts des jahrelangen Stillstandes in den Beitrittsverhandlungen.
Die andere Seite der Politik des Recep Tayyip Erdogan will so gar nicht zu den Forderungen nach einer Beschleunigung der Beitrittsverhandlungen passen. Gleich an mehreren Fronten outete sich Erdogan mit seinem Verhalten als Gegner der Pressefreiheit nach westlichem Vorbild - auch wenn er selbst das bestreitet.
Erdogan: Kein Krieg gegen die Medien
Im Interview mit der CNN-Journalistin Christiane Amanpour betont Erdogan nach einem Bericht der Deutschen Presse-Agentur, dass er keinen Krieg gegen die Medien führe. "Wir haben nie etwas getan, um die Medienfreiheit einzuschränken." Die türkische Regierung habe viel Geduld gezeigt, sagte der Präsident.
Wie sehr sich sein Verständnis einer freien Presselandschaft von den Vorstellungen der westlichen Welt unterscheidet, zeigt exemplarisch die Posse um eine Satire der TV-Sendung "extra 3".
Überraschend ist dabei weniger, dass Erdogan die Satire auf seine Kosten nicht gefällt - auch deutsche Politiker kritisieren immer mal wieder ihre Darstellung in den Medien. Es ist das gute Recht eines Karikierten, auf die Kritik an der eigenen Person wiederum mit Kritik zu reagieren.
Höchst entlarvend ist jedoch der Weg, den Erdogan für seine Reaktion wählte. Denn mit der Einbestellung des deutschen Botschafters wegen einer TV-Sendung offenbarte der Präsident ein zweifelhaftes Medienverständnis.
Erdogan machte deutlich, dass er das Eingreifen des Staates in das Programm des öffentlich-rechtlichen Fernsehens für möglich und richtig hält. Er forderte sogar die Löschung des Beitrags aus der Mediathek.
Regierungskritische Journalisten vor Gericht
Wie sehr sich seine Vorstellungen von Pressefreiheit von denen der westlichen Welt unterscheiden, zeigt auch das Vorgehen Erdogans im eigenen Land. Dort stehen derzeit die regierungskritischen Journalisten Can Dündar und Erdem Gül vor Gericht.
Ihr Prozess soll am heutigen Freitag fortgesetzt werden, allerdings unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Am ersten Prozesstag vor einer Woche sassen unter anderem Diplomaten aus den USA und Deutschland im Gerichtssaal - sehr zum Missfallen Erdogans.
Für den türkischen Präsidenten war das Grund genug, deswegen ein zweites Mal innerhalb einer Woche den deutschen Botschafter einzubestellen. Nach der Posse um den "extra 3"-Beitrag musste dieser diesmal seine Prozessbeobachtung verteidigen.
Wie sehr sich sein Medienverständnis von dem der westlichen Gesellschaft unterscheidet, offenbarte Erdogan erneut in einem CNN-Interview am Donnerstag, in dem er klare Grenzen für die freie Presse forderte. "Wir sollten Kritik nicht mit Beleidigungen und Diffamierung verwechseln", sagte der Präsident - für den eine "Diffamierung" offenbar schon bei einer abweichenden Meinung angesichts seiner eigenen Politik vorliegt.
Erdogan orientiert sich an Putins "gelenkter Demokratie"
Wie es Erdogan mit dem Grundwert der Presse- und Meinungsfreiheit hält, erscheint angesichts der Vorgänge der vergangenen Wochen und Monate ziemlich eindeutig. Der Präsident orientiert sich in der Essenz seiner Äusserungen wesentlich mehr an
"Er möchte nicht, dass über das, was in der Türkei passiert, wahrheitsgemäss berichtet wird. Er duldet keine Kritik an seiner Person", sagte Michael Rediske von "Reporter ohne Grenzen" im rbb-Inforadio. Der Journalist glaubt wie viele Beobachter, dass Erdogan "ähnlich wie Putin in Russland auch die Justiz beherrschen will".
Die Frage ist: Warum offenbart Erdogan sein wahres Gesicht ausgerechnet zu einem Zeitpunkt so ungeniert, an dem er sich gleichzeitig bemüht, mit der EU erfolgreiche Beitrittsgespräche wieder aufzunehmen? Denn dass die EU, die immer auch eine Wertegemeinschaft war, keinen Staat aufnehmen wird, der fundamentale Grundrechte einer freien Gesellschaft missachtet, dürfte auch für den Präsidenten und seine Berater offensichtlich sein.
Mit seinen öffentlichen Angriffen auf die Pressefreiheit konterkariert Erdogan eben jene Verhandlungen, für deren Erfolg er auf der anderen Seite ebenso energisch zu kämpfen scheint.
Hat Erdogan kein Interesse an einem EU-Beitritt?
Die Antwort auf diesen Widerspruch könnte nach Ansicht des Türkei-Experten Kristian Brakel ziemlich einfach sein. Brakel lebt als Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul und glaubt nicht an ein ernsthaftes Interesse des Präsidenten an einer EU-Mitgliedschaft. "Ich bin ziemlich sicher, dass der Präsident an einem richtigen Beitritt nicht interessiert ist", sagte Brakel bereits Anfang März in einem Gespräch mit unserer Redaktion.
Wirklich reformieren und so auf einen EU-Beitritt vorbereiten wolle die Regierung das Land überhaupt nicht, schon weil man nicht wisse, wie lange es eine EU in dieser Form überhaupt noch geben werde.
Die Wiederaufnahme der Beitrittsverhandlungen sind nach Brakels Meinung nicht mehr als eine innenpolitische Finte, nach dem Motto: "Schaut her, wir verhandeln wieder, wir haben es geschafft, die EU an den Verhandlungstisch zurückzuholen".
Folgt man dieser Lesart, würde Erdogan mit den EU-Verhandlungen "auf Augenhöhe" vor allem eine Stärkung seiner innenpolitischen Position im Blick haben. Und gleichzeitig nach dem Vorbild Russlands etwaige Gegenstimmen in der freien Presse ganz bewusst unterdrücken und die Meinungsfreiheit immer weiter einschränken.
Dass er als Staatspräsident im Prozess gegen die freien Journalisten als Nebenkläger auftritt, zeigt nach Ansicht des "Reporter ohne Grenzen"-Vertreters Rediske seine wahre Haltung gegenüber einer freien Gesellschaft. Erdogan offenbare damit ganz ungeniert, "dass er jede Kritik als Majestätsbeleidigung versteht."
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