Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan ist nicht zuletzt aufgrund der Böhmermann-Affäre in Deutschland in den vergangenen Monaten in die Schlagzeilen geraten. Er gilt als äusserst umstrittene Figur auf dem politischen Parkett. Aber wer ist dieser Mann eigentlich? Wer steckt hinter der Amtsfassade des türkischen Präsidenten? Diese und weitere Fragen beantwortet die Journalistin und Autorin Cigdem Akyol in ihrer aktuellen Erdogan-Biografie.
Die einen sehen ihn als Heilsbringer, als Erschaffer einer neuen politischen und wirtschaftlichen Stabilität in der Türkei. Andere erkennen in ihm den machtgierigen und korrupten Unterdrücker, der die Türkei früher oder später in eine Diktatur führen wird. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan spaltet sein eigenes Land.
Cidgem Akyol hat diesen Mann und seine Persönlichkeit genau studiert. Sie reiste ihm hinterher, besuchte etliche Veranstaltungen, bei denen er auftrat.
Nur mit Erdogan selbst kam kein Gespräch zustande – auch wenn die Autorin mehrere offizielle Anfragen stellte. Sie sprach stattdessen mit Vertrauten, Freunden und Feinden, Befürwortern und Gegnern. Und – kaum einen mag dies verwundern – die allerwenigsten von ihnen wollten in "Erdogan: Die Biografie" zitiert werden.
Ein Mann des Volkes
Erdogan stammt aus einfachen Verhältnissen, aufgewachsen im Istanbuler Stadtteil Kasimpasa, einem ärmlichen und konservativen Viertel.
"Wer wissen will, von wo aus Erdogans Aufstieg begann, der muss zurück in die stinkenden Strassen und Gassen von Kasimpasa. Die Rolle des Durchbeissers im Kampf gegen die Elite liegt ihm schon von seiner Biografie her", schreibt Cigdem Akyol. In einer konservativen Familie aufgewachsen, erfährt er viel Strenge.
So beschreibt die Autorin beispielsweise, dass Erdogan nur heimlich am Fussballtraining teilnehmen konnte, weil das Tragen der kurzen Hosen und engen Oberteile seinem Vater missfiel und diesem zu "unislamisch" war.
Bereits als Schüler fielen die rhetorischen Fähigkeiten von Recep Tayyip Erdogan auf. Er liebte es, vor der Klasse den Koran zu rezitieren oder Gedichte vorzutragen. Die Quintessenz aus den Kapiteln zu seiner Kindheit und Jugend bleibt immer die, dass er sich alles hart erarbeitet und durch Fleiss und Ehrgeiz eigentlich verschlossene Türen selbst geöffnet hat.
Die perfekte Familie
Was von seiner Frau Emine als "Liebe auf den ersten Blick" beschrieben wird, wirkt in Wahrheit durchgeplant. Sie heirateten innerhalb eines Jahres nach dem Kennenlernen – ohne dass sie jemals miteinander ausgegangen wären.
Danach waren die Rollen klar verteilt. Sie blieb zu Hause, gebar Erdogan zwei Töchter und zwei Söhne und hielt ihrem Mann den Rücken frei. "Eine Frau, die die Öffentlichkeit sucht oder gar eine eigene Arbeit anstrebt, ist sie nicht", schreibt Cigdem Akyol. Auch sonst wirkt alles durchgestylt, das gesamte Familien-Idyll auf die politische Klientel abgestimmt.
Bei Fototerminen sassen die Mädchen stets mit Kopftuch am Esstisch, seine Frau servierte lächelnd das Essen. Was echt ist und was gespielt, lässt sich nicht sagen – "denn alles Private wird gedeckelt, inszeniert und im Nachgang idealisiert", meint die Autorin.
Recep Tayyip Erdogan und seine Feinde
Freundschaften halten laut Cigdem Akyol bei Erdogan nur so lange, wie sie ihm nützlich sind: "Freunde sind schnell vergessen, Feinde aber nie – er ist nachtragend und zornig auf alle, die es wagen, ihn zu hinterfragen und rechnet irgendwann ab."
Die Türkei sei zu einem Land geworden, in dem Jugendliche Angst haben müssten, wegen eines Erdogan-kritischen Facebook-Posts ins Gefängnis zu kommen, so Akyol. Ein Beispiel für die Freund-Feind-Entwicklung im Kosmos Erdogan liefert die Autorin mit Necmettin Erbakan.
Zuerst ist er der politische Ziehvater Erdogans, später aber sein Gegner. Als sich Erdogan 1994 zum Istanbuler Bürgermeister wählen lassen will, hat sein Mentor etwas dagegen. "Doch er hat die Rechnung ohne Erdogan gemacht – und ohne dessen nun etablierte Basis in der Partei", schreibt Akyol.
Erdogan mobilisiert die Mitglieder und lässt sich aufstellen. Die Wahl gewinnt er und wird danach immer wieder zeigen, wie er mit Freunden verfährt, die sich ihm in den Weg stellen oder es wagen, ihn zu kritisieren.
Jeden Kampf, den er fortan gewann, habe ihn nur noch grössenwahnsinniger und selbstverliebter werden lassen, schildert Akyol.
Erdogans bedingungsloses Streben nach Macht
"Er ist eine einzigartige Figur. Sein grösstes Alleinstellungsmerkmal ist jedoch mittlerweile seine Skrupellosigkeit", so fasst Autorin Cigdem Akyol in ihrem Nachwort die Persönlichkeit des türkischen Präsidenten zusammen.
Er wolle gefürchtet werden und gehe rücksichtslos gegen alles und jeden vor, der nicht seiner Meinung sei. Was sie ausserdem deutlich macht, ist die Erkenntnis, dass Erdogan stets nur sich selbst gegenüber loyal sei und dass ihm "jede Form von kritischer Selbstwahrnehmung" fehle.
"Erdogan: Die Biografie" hinterlässt einen faden Beigeschmack, denn der Leser wird sich fragen, wo denn die Reise mit der Türkei unter Recep Tayyip Erdogan noch hinführen wird.
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