Wochenlang hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan Europa provoziert. Am Dienstag dann sendete seine Partei, die AKP, ein erstes Versöhnungszeichen. Experten aber glauben: Das bedeutet noch lange nicht, dass Erdogan zur Räson gekommen ist.

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Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan suchte in den vergangenen Monaten ein effektives Instrument, um die Bürger zwischen Istanbul und Antalya, zwischen Izmir und Ankara von seiner geplanten Verfassungsänderung zur Einführung eines Präsidialsystems zu überzeugen. In den Absagen mehrerer von AKP-Politikern geplanten Wahlkampfauftritte in Deutschland und den Niederlanden scheint er ein solches Instrument gefunden zu haben.

"Nazi-Überbleibsel" und "Faschisten" auf der einen Seite, eine gedemütigte und angefeindete Türkei auf der anderen. So sieht das schwarz-weisse Weltbild aus, mit dem Erdogan seine Unterstützer und Millionen unentschlossene Wähler mobilisieren will.

Für Gülay Kizilocak vom Zentrum für Türkeistudien (ZfT) liegen die Beweggründe für die Eskalation der letzten Wochen auf der Hand. "Das hat es der AKP ermöglicht, das Bild eines antitürkischen Europas zu zeichnen. Und das wiederum hilft, jene sehr patriotischen bis nationalistischen Türken auf die eigene Seite zu ziehen, die bisher beim Referendum eher mit Nein stimmen wollten", sagte die Türkei-Expertin "Zeit Online".

Wie viele das genau sind, lässt sich nicht beziffern. Kizilocak meint: "wahrscheinlich viele".

Vor allem regierungstreue Medien berichteten zuletzt über kaum etwas anderes als die angeblichen "Nazi-Praktiken" in Europa. Durch die hochgekochten Emotionen würden vor allem jene angesprochen, "die ihren türkischen Stolz durch die Verbote in den Niederlanden gekränkt sehen".

Erdogan lenkt von innenpolitischen Problemen ab

Ausserdem passt Erdogans Verhalten der vergangenen Wochen zu einer alten Staatsmänner-Weisheit, die sinngemäss besagt: Wenn du Probleme im Inneren hast, konzentriere dich auf die Aussenpolitik.

Um die türkische Wirtschaft ist es nicht gut bestellt, die Commerzbank warnt laut "Handelsblatt" gar: "Die türkische Wirtschaft kollabiert." Die Währung hat an Wert verloren, die Inflation hat die Zehn-Prozent-Marke überschritten, das Bruttoinlandsprodukt schrumpfte im dritten Quartal 2016 um 1,8 Prozent. Zwölf Prozent der Bevölkerung sind arbeitslos, bei den Jugendlichen und jungen Erwachsenen liegen die Zahlen noch höher.

Auch um von der schlechten wirtschaftlichen Lage abzulenken taugt der Streit mit der EU.

Provokationen haben sich abgenutzt

Umso mehr verwundert es auf den ersten Blick, dass die AKP am Dienstag alle im Ausland geplanten Werbe-Veranstaltungen für ein Ja beim Referendum abgesagt hat.

SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz wertete die Entscheidung als "Zeichen der Vernunft". Der stellvertretende CDU-Vorsitzende in Nordrhein-Westfalen, Armin Laschet, sagte der "Passauer Neuen Presse", die klaren Ansagen und die deutlichen Worte hätten offenbar "in Ankara Wirkung gezeigt". Doch ist Erdogan wirklich zur Räson gekommen?

Gülay Kizilocak vermutet eher taktische Erwägungen. Die türkischen Provokationen seien erfolgreich gewesen, aber sie hätten sich abgenutzt. "Was sollte denn nach den Merkel-Hitler-Vergleichen noch kommen? Mehr geht ja nicht", sagte sie "Zeit Online". "Die Opferlegende dürfte Erdogan am Ende mehr Stimmen einbringen als weitere Kundgebungen seiner Minister", kommentiert Maximilian Popp auf "Spiegel Online".

Mehrheit für Ja ungewiss

Die Eskalation mit Deutschland und den Niederlanden könnte der türkischen Regierung ein paar Prozentpunkte unter eher konservativen Wählern beschert haben. Aber wurden moderate Stimmberechtigte unter den vielen Unentschlossenen vielleicht abgeschreckt? Auch ihre Stimmen braucht Erdogan.

Ob Erdogan am 16. April eine Mehrheit bekommt, ist noch keineswegs sicher. Es wird mit einem knappen Ausgang gerechnet, manche Umfragen sehen laut "FAZ" die Neinsager vorne.

Unter den 1,4 Millionen türkischstämmigen Wahlberechtigten in Deutschland votierten bei der letzten Parlamentswahl zwar sechzig Prozent für die AKP, zehn Punkte mehr als in der Türkei. Allerdings lag die Wahlbeteiligung nur bei 40 Prozent. Die bisherigen Nicht-Wähler könnten – auch in anderen europäischen Ländern – das Zünglein an der Waage sein.

Erdogan hat folglich ein Interesse daran, dass die Erregung und Euphorie der Wähler noch bis zum Abstimmungstermin hält. "Ich bin sicher", sagt Türkei-Expertin Gülay Kizilocak. "dass er sich neue Konfliktfelder suchen wird."

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