Was hat die beschämend späte Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz mit der allgemeinen Wehrpflicht für Männer zu tun? Eine ganze Menge, sagt die Schweizer Politologin und Historikerin Regula Stämpfli im Interview.

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Regula Stämpfli untersuchte in ihrer Dissertation "Mit der Schürze in die Landesverteidigung" von 1999 das Verhältnis zwischen Schweizer Militär und Frauenpolitik zwischen 1914 und 1945. swissinfo.ch sprach mit der bekannten Intellektuellen über die Kopplung von Bürgerrechten und Bürgerpflichten in der Schweiz.

Regula Stämpfli, ist die Wehrpflicht schuld daran, dass in der Schweiz das Stimmrecht für Frauen erst 1971 eingeführt wurde?

Regula Stämpfli: Ja, sicher auch. Natürlich spielte die direkte Demokratie ebenfalls eine Rolle: In der Schweiz musste die Mehrheit der Männer Ja sagen zum Frauenstimmrecht. Aber es gab tatsächlich auch einen engen Bezug zur Wehrpflicht, weil in der Schweiz über Jahrhunderte die waffentragenden Männer über Krieg und Frieden abstimmten. Die Wehrpflicht war eine Pflicht, aber gleichzeitig auch ein Recht, über Krieg abzustimmen. Deshalb mussten die Schweizer Frauen – die übrigens lange vor der offiziellen Gleichberechtigung sehr stark im Staat integriert waren – so lange auf das Stimm- und Wahlrecht warten.

Das heisst, die Frauen waren gar nicht unbedingt unterdrückt, aber man koppelte Wehrpflicht mit Stimmrecht?

Absolut! Ich finde sowieso, wir müssten die Geschichte neu schreiben, was ich in meiner Dissertation und in Publikationen versucht habe. Unterschätzen Sie die Frauen nicht!

Der Gemeinderat von Unterbäch im Kanton Wallis gab den Frauen 1957 ein symbolisches Stimmrecht, als es um die Einführung eines obligatorischen Zivildienstes für Frauen ging. Das war wahrscheinlich kein Zufall, oder?

Nein, überhaupt nicht. Es ist ja interessant: Direkte Demokratie, oder überhaupt Demokratie, entwickelt sich immer entlang den Linien Inklusion und Exklusion.

Das heisst?

Das heisst, es wird schrittweise immer mehr Gruppen und Minoritäten ein Stimm- und Wahlrecht zuerkannt – beispielsweise Ausländern und Ausländerinnen, oder in Frankreich den Algeriern und Algerierinnen.

Oder nehmen Sie das Beispiel Deutschland: In Preussen gab es vor 1918 ein Dreiklassenwahlrecht, später ein allgemeines gleiches Männerwahlrecht und mit der Weimarer Verfassung schliesslich auch das Frauenwahlrecht.

Die Schweizer Demokratie hingegen baute immer auf dem Konzept Rechte und Pflichten auf. Deshalb argumentierten Frauenrechtlerinnen schon seit der ersten Bundesverfassung von 1848 folgendermassen: Wir Frauen müssen keinen Wehrdienst leisten, um das Stimmrecht zu bekommen, sondern wir erfüllen bereits die Mutterschaftspflicht.

Jede Frau, die ein Kind zur Welt bringt, leistet viel mehr als jeder wehrpflichtige Mann. Oder anders gesagt: Frauen leisten in der Gesellschaft eine Art Zivildienst, daher hätten sie immer schon ein Stimmrecht haben sollen. So argumentierte auch die erste Juristin Europas – die Schweizerin Emilie Kempin-Spyri.

Das geht heutzutage im Diskurs über direkte Demokratie oft vergessen: Demokratie besteht in der Schweiz tatsächlich aus einer ganz grossen Tradition von Rechten und Pflichten – militärisch, aber auch liberalstaatlich.

Seien wir ehrlich: Die Freiheit vom Staat, also diese Bedienermentalität, die wird heutzutage unfassbar locker gelebt, die Freiheit zum Staat, also die Pflichten, die werden nur noch von den Nicht-Habenden wahrgenommen.

Ausländer können in der Schweiz an einigen Orten auf kommunaler und kantonaler Ebene abstimmen. Sie müssen aber keinen Militärdienst leisten. Das Gleiche gilt für Frauen. Wie geht das zusammen?

Ach wissen Sie, das ist ein blödes und altes Argument. Ich finde, alle Menschen, die hier leben und Steuern zahlen, haben ein Recht auf Beteiligung am politischen System. Gleichzeitig plädiere ich schon seit Jahren für einen Gemeinschaftsdienst aller in der Schweiz lebenden Menschen.

Da bin ich aber quasi konservative Revolutionärin, weil ich mich damit in der Tradition der Aufklärung verorte. Seit über 200 Jahren geht es darum, wer zum Staat gehört und wer nicht.

Es gab schon in den französischen Salons die Forderung nach dem Frauenwahlrecht, das sollte man nicht vergessen! Auch Gleichstellung der jüdischen Minderheit war sehr früh Thema – eine Minderheit, die nach der französischen Revolution tatsächlich die bürgerlichen Rechte auch bekam.

Alle diese Konzeptionen sind irgendwie verloren gegangen im Bewusstsein, was Demokratie ist. Für mich sind Biologie, Herkunft und Alter nicht entscheidend oder definierend für eine Demokratie. Sondern Demokratie setzt sich aus Gleichen zusammen, die gemeinsam handeln.

Nicht, wer sie sind, ist entscheidend, sondern was sie tun. Und deshalb wäre es für mich selbstverständlich, dass Menschen, die hier leben, arbeiten und an der Gemeinschaft teilnehmen, auch ein Stimmrecht haben.

Diesbezüglich war das 19. Jahrhundert wirklich ein eigentliches Mittelalter für die Weltgeschichte. Das 19. Jahrhundert hat die Welt unendlich undemokratisch und diskriminierend in die Zukunft gebracht: Nationalismus und Männerherrschaft prägen fortan die Weltpolitik.

Ein Gemisch, das schliesslich auch in den Faschismus führt. Alles Dinge, die auch heute unbedingt zu diskutieren wären.  © swissinfo.ch

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