Die Europäische Union sorgt sich um die Rechtsstaatlichkeit in Rumänien. Eine zutiefst korrupte politische Elite bereichert sich nach Kräften - und ändert die Gesetze und die Besetzung in den Justizbehörden, um sich vor Strafverfolgung zu schützen. Die Alarmglocken schrillen. Erst Polen. Dann Ungarn. Jetzt Rumänien?

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Liviu Dragnea ist wegen Wahlmanipulation seit 2016 vorbestraft. Ausserdem hat ihn im Juni ein Gericht in erster Instanz wegen Anstiftung zum Amtsmissbrauch zu drei Jahren Haft verurteilt. Aktuell wird wieder gegen ihn ermittelt, im Zusammenhang mit der Veruntreuung von EU-Geldern. Doch keines der Verfahren hat den Rumänen so richtig in Bedrängnis gebracht. Zwar darf er wegen der Vorstrafe nicht Ministerpräsident von Rumänien werden, doch er ist Parlamentspräsident, Chef der regierenden Sozialdemokraten (PSD) - und der wohl mächtigste Mann im Land.

Ministerpräsidentin Viorica Dancila - Nummer drei auf dem Posten binnen knapp zwei Jahren - gilt wie ihre Vorgänger als Marionette Dragneas.

Dass ein Kleptokrat das Land lenkt, ist nicht neu, doch zuletzt hat sich die Situation in Rumänien zugespitzt. "Die PSD versucht offen, seit 2005 Erfolge in der Korruptionsbekämpfung und der Modernisierung der Justiz zurückzudrehen und politischer Korruption wieder Tür und Tor zu öffnen", sagt Michael Hein, Rumänien-Experte an der Universität Göttingen, im Gespräch mit der Redaktion.

Bestechung und Amtsmissbrauch verjähren jetzt schneller

Rund 300 Gesetze zugunsten Dragneas und der politischen Elite hat das Parlament binnen weniger Monate verabschiedet: Bestechung, Unterschlagung und Amtsmissbrauch verjähren jetzt schneller. Die Hürden für die Beschlagnahmung von ergaunertem Vermögen wurden erhöht, die Fristen verkürzt, binnen denen Ermittlungen abgeschlossen werden müssen. Ein Gesetz, das gerade im Oberhaus verhandelt wird, sieht vor, dass Haftstrafen bis zu fünf Jahren in Hausarrest umgewandelt werden können - was zum Wohle Dragneas wäre.

Darüber hinaus tauscht die PSD unliebsame Richter und Staatsanwälte gegen parteitreue Juristen aus. So musste zum Beispiel die langjährige Leiterin der Anti-Korruptions-Staatsanwaltschaft, Laura Kövesi, gehen.

Die Vorgänge rufen die EU auf den Plan. Die Venedig-Kommission, eine Expertengruppe des Europarats in Rechtsfragen, hat die Justizreform vor wenigen Wochen in einem Gutachten scharf kritisiert.

Sie wecke "ernsthafte Bedenken über das Funktionieren des Rechtsstaates", heisst es darin. Ein aktueller Lagebericht der EU-Kommission schliesst sich dem vernichtenden Urteil an.

Udo Bullmann, Vorsitzender der sozialdemokratischen Fraktion im Europaparlament (S&D) sagt auf Nachfrage dieses Portals: "Wir beobachten die Entwicklung in Rumänien sehr aufmerksam und nicht ohne Sorge."

Sein Kollege Daniel Caspary, Vorsitzender der zur EVP-Fraktion gehörenden Gruppe von CDU und CSU im Europaparlament, stellt fest: "Es hatte in der Vergangenheit eine Menge Fortschritte in Rumänien gegeben. Aber jetzt sehen wir plötzlich diverse Rückschritte, die Sorgen und viele Fragen auslösen."

"Es geht nur um Eigeninteressen der politischen Elite"

Das Europaparlament hat den Umbau der Justiz am Dienstag in einer Resolution scharf kritisiert - ein Warnschuss an die rumänische Regierung. Lenkt sie nicht ein, könnte am Ende ein sogenanntes Artikel-7-Verfahren stehen, wie es gegen Polen läuft und nach dem Willen des Parlaments gegen Ungarn eingeleitet werden soll. In letzter Konsequenz kann ein Mitgliedsstaat dabei sein Stimmrecht verlieren.

Erst Polen. Dann Ungarn. Jetzt Rumänien? Während Caspary die Situation in Rumänien "deutlich kritischer als in Ungarn" nennt, findet Wissenschaftler Michael Hein den Vergleich schwierig.

Anders als die rechtspopulistische ungarische Regierungspartei Fidesz unter Ministerpräsident Victor Orbán hätten Dragnea und seine Leute quasi keine ideologische Agenda. Sozialdemokratie - das sei für die PSD eher ein Label, denn mit Werten verbunden. "Es geht nicht um irgendeine Programmatik, sondern um Eigeninteressen der politischen Elite. Was wir in Rumänien haben, ist eine institutionalisierte Dauerkrise zwischen der Regierung und Parlamentsmehrheit auf der einen Seite und der Justiz und dem Staatspräsidenten auf der anderen Seite", sagt Hein. Man könnte auch sagen: zwischen jenen, die sich bereichern wollen und jenen, die versuchen, dies zu verhindern.

Staatspräsident Klaus Iohannis, der der bürgerlichen Opposition nahesteht, hat dieser Tage gar offen den Rücktritt der Regierung gefordert.

Sie habe nicht die Kompetenz, wie geplant am 1. Januar den EU-Ratsvorsitz zu übernehmen. "Die politische Notwendigkeit besteht jetzt darin, diesen Unfall der rumänischen Demokratie, nämlich die Regierung Dragnea-Dancila, zu ersetzen."

Rumänien ist aus Heins Sicht - im Unterschied zu Ungarn - allerdings weit von einer Autokratie entfernt. Zu einem Umbau des gesamten Staates sei die PSD gar nicht in der Lage.

Zum einen, weil ihr für Verfassungsänderungen die nötige Mehrheit fehlt, zum anderen, weil in Rumänien das Volk jede Verfassungsänderung in einem Referendum absegnen muss.

Drohkulisse als Druckmittel gegen die Regierung

Rumänien ist also nicht das nächste Ungarn. Doch die Regierung in Bukarest tritt europäische Werte mit Füssen. Wie wird die EU damit umgehen?

"Ich finde, dass ein ergebnisoffenes Artikel-7-Verfahren hilfreich wäre", sagt der EVP-Abgeordnete Caspary. Sein sozialdemokratischer Parlamentskollege Bullmann hingegen sieht derzeit "keinen Anlass, über ein Rechtsstaatlichkeitsverfahren gegen Rumänien zu spekulieren".

Um ein solches Verfahren auf den Weg zu bringen, müsste sich die sozialdemokratische Fraktion gegen eine Partei aus den eigenen Reihen stellen. Doch selbst, wenn S&D sich dazu durchringen würde: Der Europäische Rat müsste einstimmig zustimmen - und die Wahrscheinlichkeit, dass er das tut, geht allein wegen Ungarn und Polen gegen null.

Doch so schwach der Sanktionsmechanismus der EU auch ist: Nach Einschätzung von Michael Hein lässt die Drohkulisse Artikel-7-Verfahren Liviu Dragnea und seine Partei zumindest nicht ganz kalt. "Von den drei Fällen Polen, Ungarn und Rumänien ist Rumänien aus meiner Sicht das Land, wo das am meisten Einfluss haben könnte", sagt er. Rumäniens Regierung scheue offenen Widerstand gegen die EU, auch aus Angst vor dem Wähler. Immerhin 64 Prozent der Rumänen haben laut Eurobarometer im Frühjahr angegeben, sich als Bürger der EU zu fühlen. Lediglich 15 Prozent sehen die EU negativ - im Durchschnitt der 28 Länder sind es 21 Prozent. "Es ist von Vorteil, wenn die Diskussion um Strafmassnahmen gegen Rumänien weiter köchelt. Für die Opposition und die Zivilgesellschaft ist das ein wichtiges Druckmittel gegen die Regierung."

Dr. Michael Hein ist Politikwissenschaftler und Südosteuropaforscher an der Georg-August-Universität in Göttingen.

Verwendete Quellen:

  • Interview mit Michael Hein
  • dpa
  • Gutachten der Venedig-Kommission vom 20. Oktober
  • Eurobarometer vom 13. März 2018
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