Die Situation in der Ostukraine spitzt sich immer mehr zu. Russlands Aussenminister Sergej Lawrow hat gedroht: Würden die legitimen Interessen seines Landes angegriffen, sehe er keine Alternative zu einer "Antwort gemäss dem Völkerrecht". Dazu und zu den Zukunftsaussichten der Ukraine haben wir mit dem Russland-Experten Ewald Böhlke gesprochen.
Herr Böhlke, erwägt Russland tatsächlich ein militärisches Eingreifen in der Ostukraine?
Dr. Ewald Böhlke: Nach dem Erlebnis mit der Krim können wir keine Situation ausschliessen. Ich würde auch diese Art der Drohung sehr, sehr ernst nehmen. Wenn Lawrow solche Sätze spricht, dann signalisiert er der Weltöffentlichkeit: Wir bleiben in der brutalen Logik.
Was hätte diese Logik für Folgen?
Also die Konsequenzen wären barbarisch. Wir sind ja auf diplomatischem Feld gerade dabei, die OSZE zu stärken und damit nicht-militärische Faktoren in den Mittelpunkt zu rücken. Das würde mit einer Aggression sofort scheitern. Dann wären auch die gesamten Bemühungen um die Genfer Friedenskonferenz gescheitert. In dem Moment, wo ein Akt militärischer Gewalt von russischer Seite auf ukrainischem Territorium passiert, ist es wieder eine Aggression und das kann niemand hinnehmen.
Putin vermittelt den Eindruck, dass er die pro-russischen Kräfte in der Ostukraine nicht mehr kontrollieren kann. Glauben Sie ihm das?
Ich denke mal, da wird auch etwas Verwirrspiel betrieben. Soweit ich informiert bin, haben sich die Separatisten in der Ostukraine einseitig immer nur an Moskau gewandt. Dabei ging es um drei Bitten: den Pass, Waffen und das Eingreifen der Armee. Keiner der Separatisten hat sich jemals an Berlin, Paris oder Washington gewandt. Insofern ist die Orientierung eindeutig.
Gibt es weitere Anhaltspunkte dafür, dass Moskau die Fäden in der Hand hat?
Wir beobachten die ganze Zeit in der Ostukraine eine Situation, wo immer ein Dreischritt passiert. Erst stürmen sehr speziell ausgebildete Leute bestimmte Verwaltungsgebäude, danach kommen etwas Ältere mit russischen Fahnen ins Gebäude und schliesslich das Publikum mit den über 60-Jährigen. Das ist das, was wir in allen Städten der Ostukraine beobachten. Und dann kann man nicht davon ausgehen, dass dies alles zufällige Einheiten der Volksmiliz sind. Es scheint anders organisiert zu sein. Das sind aber wohlgemerkt Beobachtungen aus den Bildern in Youtube. Das kann man nicht als den endgültigen Beweis nehmen für die russische Einflussnahme. Aber es ist ein starkes Indiz.
Ist die jetzige brisante Lage vergleichbar mit dem Kaukasus-Krieg im Jahr 2008?
Da war die Situation eine andere. Wir hatten zwar eine Eskalation, aber Sarkaschwili (Anmerkung: der damalige Präsident Georgiens) hat dann richtig eskaliert. Bei Vergleichen damit würden wir den Russen eine Steilvorlage geben. Der entscheidende Punkt jetzt ist, dass wir Separatisten haben, die ohne Rückhalt der Bevölkerung agieren. Im Prinzip haben bisher erst einige tausend Leute in der Ostukraine gezeigt, dass sie das unterstützen. Ich bleibe dabei: Die Mehrheit in der Ostukraine hat kein Interesse, an Russland angegliedert zu werden.
Das ist dann aber die schweigende Mehrheit...
Das ist richtig, aber ich verstehe das auch. Wenn sie so massive paramilitärische Kräfte in den Städten haben, würden sie auch nicht jeden Tag dorthin gehen und sagen: Raus hier! Da haben viele Menschen einfach auch nackte Angst.
Wie schnell könnte denn eine militärische Intervention von statten gehen und wie würde diese aussehen?
Da sind wir jetzt natürlich sehr im Spekulativen. Wichtig ist: Was lernen wir aus der Krim? Wir haben 10.000 bis 16.000 Mann dort zusätzlich von Russland mit ins Land gebracht. Die werden jetzt übrigens ausgezeichnet für grosse Leistungen fürs Vaterland vom 20. Februar bis zum 16. März. Am 20. Februar war ein Janukowitsch noch Präsident der Ukraine. Unter diesem Blickwinkel kann es gut sein, dass wir schon Paramilitärs im Land haben und die dann parallel mit Krimstreitkräften plus russischer Armee arbeiten. Sie können ja mit relativ einfachen Waffensystemen eine martialische Symbolwirkung der Besetzung aufbauen. Da sind Kalaschnikows und veraltete leichte Panzerfahrzeuge, nur ab und zu einmal ein schwerer Panzer.
Das heisst, sie würden dann eine Art Guerillakrieg erwarten und Russland würde nicht mit grossen Panzern einmarschieren?
Es ist ganz schwer zu sagen. Aber ich denke, das wäre tatsächlich mehr der Guerillakrieg. Das Problem in der Ostukraine ist, dass wir dort eine soziale und politische Katastrophe haben und durch die Paramilitärs darauf eine nationalistische Dimension gepresst wird. Man könnte ja sagen: Wir machen demokratisch mit Kiew Neuwahlen, die Paramilitärs sind aber der Garant dafür, dass dies nicht passiert. In den Gebieten wird niemand wählen. Deshalb war ich immer ein Anhänger der OSZE. Und man müsste jetzt eigentlich fordern: Lawrow mit John Kerry nach Donezk, um diese Banden zu entwaffnen.
Danach sieht es aber nicht aus. Droht somit eine weitere Teilung der Ukraine nach der Abspaltung der Krim?
Der Prozess ist ja im Gange. Aber das ist eine ganz schwierige Frage, wenn ich mir unsere mentalen Muster im Westen überlege. Wir wollen eigentlich nicht mehr diese Helden- und Machokultur dieser kleinen Gangs, die mit Waffengewalt alles beherrschen. Das ist nicht unsere Welt. Aber die erleben wir im Augenblick in der Ukraine. Wir haben mit der Krim gelernt, uns da erst einmal mental umzustellen, dass ein Gebiet im 21. Jahrhundert annektierbar ist. Diese Brutalität ist im Augenblick da, das müssen wir ganz sachlich zur Kenntnis nehmen.
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