Welle um Welle an russischen Soldaten wehren ukrainische Truppen in Donezk ab. Zahlenmässig sind Kiews Truppen Russland weit unterlegen – und genau darauf setzt Moskau. Rücksichtslos schickt es seine Soldaten ins Gefecht. Wie lange kann die Ukraine dagegen noch standhalten?

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Der ukrainische Kommandeur mit dem Kriegsnamen Goth zündet sich seine Pfeife an, die Explosionen in der Ferne bringen ihn nicht aus der Ruhe. Sorgen aber macht er sich um seine Männer, die der russischen Angriffstaktik zum Opfer fallen. Ohne Rücksicht auf eigene Verluste rückt Moskaus Armee im Osten der Ukraine vor. Im November erzielte Russland in der Region Donezk die grössten Geländegewinne seit Beginn des Krieges.

Etwa 725 Quadratkilometer fielen allein im vergangenen Monat an den Feind. 53 Mann pro Quadratkilometer eroberten Territoriums hätten dafür auf russischer Seite sterben müssen, schätzt die US-Denkfabrik American Institute for the Study of War (ISW). "Wir verlieren Boden an Kanonenfutter", sagt Goth verbittert und bläst bläulichen Rauch in die Luft.

"Goth" und seine ukrainischen Kameraden stehen in Donezk einer Überzahl an russischen Truppen gegenüber. © AFP/FLORENT VERGNES

Die russischen Streitkräfte schickten kleine Gruppen von Soldaten in Wellen in Richtung der ukrainischen Stellungen los, um schliesslich die zahlenmässig unterlegenen und erschöpften ukrainischen Truppen zu überwältigen, schildert Goth. "Fleischwolf"-Taktik wird dieses Vorgehen genannt. Die Bezeichnung verbreitete sich während der Schlacht um Bachmut 2023, in der Russland zehntausende aus Gefängnissen rekrutierte Sträflinge einsetzte, um ukrainische Stellungen zu stürmen.

Die Taktik funktioniere, weil sich die russische Führung kaum um ihre Verluste zu kümmern scheine, sagt Goth. Zudem sei die ukrainische Armee in der Unterzahl und verfüge nicht über die nötige Schlagkraft, um die russischen Kanonen zu zerstören. "Russland stösst Löcher in unsere Verteidigung", beklagt der 26-Jährige, der vor dem Krieg als Matrose arbeitete. "Wir versuchen, sie mit explosiven Drohnen zu stopfen."

Genaue Verluste Russlands sind unbekannt

Kurt und seine Drohneneinheit bei der 28. Brigade arbeiten genau an dieser Aufgabe in der Nähe von Torezk, wo Russland ebenfalls vorrückt. "Wir stehen einer Armee mit viermal mehr Leuten gegenüber", sagt Kurt. "Fünfzig Prozent sind nur Kanonenfutter, ehemalige Gefangene, Menschen aus unteren Schichten, die Russland als entbehrlich betrachtet."

Seit den ersten Monaten der Invasion hat sich Russland nicht mehr zu seinen Verlusten geäussert. Im November rutschte einer russischen Beamtin jedoch heraus, dass 48.000 Anfragen von Angehörigen zur DNA-Identifizierung vermisster Soldaten eingegangen seien. Diese Zahl gibt einen Anhaltspunkt, wie hoch der Preis der "Fleischwolf"-Taktik ist.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj gab Anfang Dezember zum ersten Mal die Gesamtzahl der ukrainischen Verluste bekannt: 43.000 ukrainische Soldaten wurden demnach getötet, 370.000 weitere verwundet. Auf russischer Seite ist die Zahl der Toten Schätzungen zufolge weit grösser.

"Moskau kostet es nichts, 100 oder 150 Menschen in den Tod zu schicken"

Die Nachrichtenagentur AFP sprach mit zwei russischen Kriegsgefangenen, die angaben, sich aus finanziellen Gründen für den Kriegsdienst verpflichtet zu haben. Er sei Soldat geworden, um die Reparatur seines Autos bezahlen zu können, sagt der eine. Der andere erzählt, er sei nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis zur Armee gegangen, um dort Koch zu werden. Nach drei Tagen Ausbildung sei er jedoch an die Front geschickt worden. Es war unklar, ob die beiden sich als Gefangene frei äussern konnten.

"Für Moskau kostet es nichts, 100 oder 150 Menschen in den Tod zu schicken, um einen Flecken mit Bäumen zu erobern", sagt Drohnenfachmann Kurt. "Für uns ist das anders. Wir zählen jeden einzelnen Soldaten." Um zu siegen, brauche die ukrainische Armee mehr Männer, ist er überzeugt. "Wir sind dankbar für die internationale Hilfe, aber sie reicht nicht aus, um zu gewinnen."

Die "operative und strategische Situation bleibt schwierig", räumte auch der Oberbefehlshaber der ukrainischen Armee, Oleksandr Syrskyj, am Dienstag mit Blick auf die Ostukraine ein.

Kommandeur Goth meint, angesichts der hohen Verluste werde auch Moskau bald mehr Männer brauchen. Er hofft jetzt auf einen harten Winter, der den Vormarsch der russischen Armee und ihre "Fleischwolf"-Taktik ausbremst. Er selbst werde nicht mehr lange durchhalten, glaubt Goth. "Ich werde wahrscheinlich eine Art Zusammenbruch erleiden", sagt er und schenkt sich eine Tasse Kaffee ein. "Aber meine Frau wird da sein, um mir zu helfen." (afp/bearbeitet von thp)

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