Seitdem Washington Kiew die Erlaubnis erteilt hat, mit den US-Langstreckenraketen vom Typ ATACMS Russland auch auf dessen Staatsgebiet anzugreifen, nutzt die Ukraine diesen neue Möglichkeit. Ein Wendepunkt im Krieg? Aus Sicht von Militärexperte Gustav Gressel sind noch viele Fragen offen. Wie sehr der amerikanische Kurswechsel die Ukraine voranbringen wird, hängt ausserdem von zwei entscheidenden Faktoren ab.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marie Illner sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Es ist einer der vielen vermeintlichen Wendepunkte im Ukraine-Krieg: Seit Mitte November erlauben die USA den Einsatz von Waffen mit grosser Reichweite in der Region Kursk. Für die USA, die diese Forderung bislang stets ablehnten, ist das ein Kurswechsel. Die Ukraine hatte schon lange argumentiert, sie könne sich besser verteidigen, wenn sie Russland auch tief auf dessen Staatsgebiet angreifen dürfe - was sie mit der neuen Freigabe der USA offenbar auch schon getan hat.

Mehr News zum Krieg in der Ukraine

Biden hatte sein bisheriges "Nein" mit der Sorge vor einer direkten Konfrontation mit Russland begründet. Geändert haben soll sich seine Haltung durch Tausende nordkoreanische Soldaten, die seit einigen Wochen Putins Armee verstärken. Diese unterstützen Russland derzeit bei einer Gegenoffensive in Kursk. Dieses grenznahe Gebiet hatte die Ukraine im vergangenen August erobert.

300 Kilometer Reichweite

Die Angriffe, die nun zulässig sind, beziehen sich vor allem auf ATACMS-Raketen. Diese haben eine Reichweite von 300 Kilometern. Mittlerweile ist aber auch bekannt geworden, dass Washington den Einsatz von US-Landminen freigegeben hat.

Diese sollen im Osten des Landes zum Einsatz kommen, wo Russland zuletzt immer weiter vorrücken konnte. International sind sogenannte Antipersonenminen geächtet. Die Ukraine hat die sogenannte Ottawa-Konvention ratifiziert, die den Einsatz, die Produktion und die Weitergabe dieser Waffen eigentlich verbietet.

Nukleare Drohkulisse hochgefahren

Vor allem auf die Erlaubnis, Russland mit US-Langstreckenraketen angreifen zu dürfen, reagierte der Kreml erbost. Diese kamen laut russischen Angaben bereits in der Grenzregion Brjansk zum Einsatz, ausserdem soll ein Munitionsdepot getroffen worden sein. Der Kreml fuhr seine nukleare Drohkulisse nach der Entscheidung hoch und verwies auf seine neue Atomdoktrin.

Welche Auswirkungen der Kurswechsel der USA haben wird, lässt sich aus Sicht von Militärexperte Gustav Gressel noch nicht abschliessend beurteilen. "Wir wissen noch nicht ganz, wie weit die Erlaubnis der Amerikaner reicht", sagt er.

Viele offene Fragen

Das meine Fragen wie: Wie weit von Kursk entfernt dürfen die Ukraine schiessen? Auf welche Ziele? Welchen operativen Zusammenhang zu Kursk muss es geben? "Das ist alles noch nicht wirklich klar aus meiner Sicht. Deshalb würde ich die Korken nochmal in den Flaschen lassen", warnt Gressel vor zu viel Optimismus bei den Unterstützern der Ukraine.

Die Erlaubnis sei in jedem Fall eine Erleichterung für die Ukraine, mit einer bisschen höheren Flexibilität auf Ziele in Russland schiessen zu dürfen. Die Ukraine nehme nun vermutlich Flughäfen, Munitionslager, Kommandoeinrichtungen, Treibstofflager, Truppenübungsplätze, Bereitstellungsräume und Feuerstellungen von hochwertigen russischen Waffensystemen ins Visier. "Von diesen Zielen gibt es jede Menge", sagt Gressel.

Zusammenspiel mehrerer Kapazitäten

Es sei jedoch entscheidend, wie viel Munition die Ukrainer haben, um diese Ziele zu bekämpfen. "Es gibt mehr Ziele als die Amerikaner und die Briten und die Franzosen zurzeit Raketen liefern. Die Russen werden auch leider besser darin, ATACMS abzuschiessen", so Gressel. Nicht jede Rakete, die geliefert werde, sei gleich ein vernichtetes Ziel.

"Die Ukrainer müssen auch ihre Raketen aufsparen, damit sie in möglichst koordinierten Salven schiessen, damit eine Rakete durchkommt", erklärt der Experte. Die Bedeutung der amerikanischen Erlaubnis hänge zunehmend auch von anderen Kapazitäten der Ukrainer ab. "Dabei geht es vor allem um Kapazitäten, russische Fliegerabwehrsysteme aufzuspüren, zu lokalisieren, zu stören, abzulenken und auszuschalten", so Gressel.

"Es ist nicht der Gamechanger, aber das ist im Krieg immer so."

Gustav Gressel

"Es ist nicht der Gamechanger, aber das ist im Krieg immer so", kommentiert der Experte. Viele einzelne Massnahmen, die an sich nicht kriegsentscheidend seien, führten am Ende des Tages dazu, dass der Krieg auf die eine oder andere Art und Weise ausgehe.

"Es gibt weder bei einer Waffenlieferung den Gamechanger noch bei einer Erlaubnis noch bei irgendwas anderem", stellt Gressel klar. Es sei vielmehr die Summe aller Waffenlieferungen, die Summe aller Erlaubnisse, die Summe aller Trainings- und Beratungsmassnahmen.

Trägt Trump den Kurswechsel mit?

Sollte die Ukraine nun mit US-Hilfe die Region Kursk halten können, dürfte ihr das in möglichen Verhandlungen als Vorteil gereichen. Die Ukraine hat dann ein Pfand im Gegenzug zu russisch besetzten Gebieten im eigenen Land.

Allerdings erinnern Beobachter auch daran, dass Joe Biden nur noch bis zum 20. Januar 2025 im Amt ist. Danach steht Donald Trump in den Startlöchern, der bereits im Wahlkampf angekündigt hatte, die Ukraine-Unterstützung zurückzufahren. Ob Trump den Kurswechsel der USA mittrage – auch das ist aus Sicht von Gressel völlig offen.

Debatte in Europa anstossen

Die jetzige Entscheidung könnte aber weitere Debatten nach sich ziehen – nämlich in Europa. So könnten Grossbritannien und Frankreich nachziehen. Eigentlich hatte sich auch Deutschland immer an den USA orientiert, was das Überschreiten angenommener "roter Linien" auf Seiten Russlands angeht.

Bislang bleibt Kanzler Olaf Scholz bei seinem "Nein" zum Taurus. Das wäre quasi das deutsche Pendant zu den ATACMS. Scholz ist für seine Entscheidung aber vielfach kritisiert worden, auch aus Teilen der Ampelkoalition. Vielleicht ist die Debatte nun noch einmal neu eröffnet.

Über den Gesprächspartner

  • Gustav Gressel ist Experte für Sicherheitspolitik, Militärstrategien und internationale Beziehungen. Er absolvierte eine Offiziersausbildung und studierte Politikwissenschaft an der Universität Salzburg. Schwerpunktmässig befasst sich Gressel mit Osteuropa, Russland und der Aussenpolitik bei Grossmächten.
JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.