• Die Sorge im Westen ist gross: Immer wieder schürt Russland Atom-Ängste und droht mit dem Einsatz von Nuklearwaffen.
  • Zuletzt war Russland im Besitz von über 6.000 nuklearen Sprengköpfen und damit grösste Atommacht der Welt. Davor, Russland nicht zu provozieren, warnen hierzulande viele.
  • Zwei Experten erklären jedoch, was gegen den Einsatz von Atomwaffen spricht.

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Kreml-Chef Putin hat immer wieder damit gedroht: mit dem Einsatz von Atomwaffen im Ukraine-Krieg. "Das ist kein Bluff" unterstrich er zuletzt und heizte damit die Angst vor einer nuklearen Eskalation weiter an. "Wir werden unsere Gebiete mit allen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, verteidigen", warnte er bei seiner Rede zur Annexion der ukrainischen Gebiete Cherson, Luhansk, Donezk und Saporischschja.

Die Befürchtung: Russland wird nun das westliche Handeln und insbesondere Waffenlieferungen an die Ukraine zwingend als Grenzüberschreitung deuten und eine atomare Antwort, etwa in Form von taktischen Nuklearwaffen, geben. Auch Altkanzlerin Angela Merkel warnte jüngst, man müsse Putins "Worte ernst nehmen". Doch es gibt auch Argumente, die gegen einen Atomwaffeneinsatz sprechen.

1. Rote Linien gibt es gar nicht mehr

Putin droht seit Kriegsbeginn laufend mit dem Einsatz von Atomwaffen, hat sie aber bislang nicht eingesetzt. Die "rote Linie", von der immer wieder die Rede ist, scheint also noch nicht überschritten. Aus Sicht von Russlandexperte Alexander Dubowy sind die Atom-Drohungen weiterhin ein geeignetes Instrument, um dem Westen immer wieder Angst zu machen.

"Der Westen kann sich über den genauen Verlauf der sprichwörtlichen 'roten Linien' in der Vorstellungswelt Wladimir Putins keinesfalls sicher sein. So gipfelt letztlich jede Handlung auf westlicher Seite in ein heuristisches Spiel aus Versuch und Irrtum", analysiert Dubowy.

Dass das westliche Handeln zwingend zu einer atomaren Antwort führt, hält er für einen Trugschluss. "Allein die Überzeugung, wonach der Westen einen unmittelbaren, wesentlichen Einfluss auf die Entscheidungsfindung Wladimir Putins nehmen kann, ist kindlich naiv und masslos selbstüberhöhend zugleich – deswegen aber um keinen Deut weniger falsch", sagt er.

Es gebe keine klaren roten Linien mehr, jede beliebige Handlung des Westens könne von Putin zu jedem beliebigen Zeitpunkt als eine unverzeihliche Grenzüberschreitung ausgelegt werden. "Der Westen darf nicht in Schockstarre verfallen, denn zu Tode gefürchtet, ist auch gestorben", meint Dubowy.

2. Die Elitengruppen müssen zustimmen

Damit es zu einem Einsatz von Atomwaffen kommt, braucht es auch eine Zustimmung der Elitengruppen rund um den Kreml-Chef – also etwa von Angehörigen der Regierung, des Sicherheitsrates, der Präsidialverwaltung und der Wirtschaftselite. Dass sie bereit sind, eine nukleare Eskalation mitzutragen, glaubt Dubowy aktuell nicht.

"Der russischen Wirtschaft geht es zunehmend schlechter, die Menschen werden zunehmend unruhiger. Ein Konflikt mit den Eliten ist so ziemlich das Letzte, das Putin derzeit braucht", sagt der Politikanalyst. Die Einflussmöglichkeiten der Eliten auf die Entscheidungsfindung des russischen Präsidenten würden aber mit dem weiteren Kriegsverlauf unmittelbar zusammenhängen. Als Faustregel könne man festhalten: "Je schlechter es aus militärischer Sicht in der Ukraine für Russland läuft, desto mehr Unterstützer aus den Reihen der Eliten braucht Putin im Inland, um sein Machtsystem stabil zu halten."

3. Putins Rückhalt schwindet

Aus Sicht des Experten spielt auch die Stimmung in der Bevölkerung eine Rolle: "Vor dem Hintergrund des sich langsam, doch unaufhaltsam entfaltenden Sanktionsdrucks sowie der zahllosen Probleme und Skandale rund um die Mobilmachung nimmt die tatsächliche Unterstützungsbereitschaft seitens der Bevölkerungsmehrheit für den russischen Präsidenten ab", beobachtet Dubowy. Je mehr Unterstützer Putin in den Reihen der Eliten für eine Stabilisierung Russlands benötige, umso unwahrscheinlicher werde ein Abdriften in eine personalistische Diktatur und damit letztlich auch der Einsatz der Atomwaffen.

"Daraus folgt, je länger und entschlossener sich die Ukraine mithilfe der – dringend benötigten – westlichen Unterstützungsmassnahmen gegen Russland zu wehren vermag, desto geringer wird der Preis sein, den die Ukraine und letztlich auch der Westen für den Frieden zahlen müssen", zeigt der Experte auf.

4. Putin hat noch nicht alle Mittel ausgeschöpft

Ende September kündigte Putin eine Teilmobilmachung an. Sie betrifft Russen, die bereits gedient oder militärische Erfahrung haben. Es handelt sich nicht um eine generelle Mobilmachung, bei der grundsätzlich Männer aus der Bevölkerung für die Armee eingezogen werden. Mithilfe der Teilmobilmachung sollen 300.000 neue Kräfte dazukommen. "Die Russen haben das Instrument der Mobilmachung noch nicht ausgeschöpft", hatte Militärexperte Gustav Gressel bereits in der Vergangenheit im Gespräch mit unserer Redaktion erinnert. Solange man dieses Instrument noch nicht ausgereizt habe, sei ein Atomwaffeneinsatz unwahrscheinlich.

Aus Sicht von Gressel zählt der Kreml ausserdem darauf, dass im Zuge der amerikanischen Zwischenwahlen, dem Gas-Embargo und den steigenden Energiekosten die westliche Unterstützung für die Ukraine schlechter wird. "Wenn die Russen jetzt Atomwaffen einsetzen, würden sie die westliche Unterstützung für die Ukraine nur noch verstärken. Solange sie ihre Mittel der Druckausübung noch nicht voll ausgeschöpft sehen, wird es keinen Einsatz geben", sagt Gressel.

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5. Der Einsatz von einer Atomwaffe beendet den Krieg nicht

Bei der Angst vor einer nuklearen Eskalation gerät eine Tatsache schnell aus dem Blick: Russland kann den Kriegsverlauf nicht durch den Einsatz einer einzigen Atomwaffe massgeblich beeinflussen – müsste aber sofort mit internationaler Isolation und einer amerikanischen Antwort rechnen. Washington soll Moskau in Hintergrundgesprächen deutlich gemacht haben, was dem Land blühen würde, wenn es nicht nur beim Säbelrasseln bleibt. "Um den Krieg nuklear zu beenden, müsste man mehrere Atomwaffen einsetzen", hatte auch Gressel gesagt.

Über die Experten:
Dr. Alexander Dubowy ist Politikanalyst und Osteuropa- sowie Russlandexperte. Er studierte Rechtswissenschaften, Wirtschafts- und Politikwissenschaften in Wien und Moskau. Er forscht zu internationalen Beziehungen und Sicherheitspolitik mit Schwerpunkt auf Osteuropa, Russland und den GUS-Raum.
Gustav Gressel ist Experte für Sicherheitspolitik, Militärstrategien und internationale Beziehungen. Er absolvierte eine Offiziersausbildung und studierte Politikwissenschaft an der Universität Salzburg. Schwerpunktmässig befasst sich Gressel mit Osteuropa, Russland und der Aussenpolitik bei Grossmächten.
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