- Der russische Überfall auf die Ukraine vom 24. Februar jährt sich in wenigen Wochen.
- Trotz zahlreicher Schlachten ist Putin noch immer weit von seinen Kriegszielen entfernt.
- An welchem Punkt steht der Krieg heute? Militär-Experte Gustav Gressel zieht eine Zwischenbilanz.
Früher einmal waren die Städte Kreminna und Svatove für ihre schöne Lage am Krasna-Fluss bekannt. Einige Hotels luden in der Umgebung des Flusses, der in einem Walddreieck liegt und hauptsächlich durch die Schneeschmelze gespeist wird, zum Übernachten ein. Heute ist die Region in Luhansk Schauplatz heftiger Gefechte.
"Die Ukrainer greifen schon seit über einem Monat an und versuchen Kreminna einzukesseln", sagt Militärexperte Gustav Gressel. Er hat den Verlauf des Krieges von Anfang an beobachtet. Mit Frontlinien, Transportstrecken und Truppenverlegungen kennt er sich bestens aus. "Der Fortschritt der ukrainischen Offensive ist, ähnlich wie bei den Russen, äusserst langsam, allerdings nicht derart verlustreich", beobachtet Gressel.
Die Russen verteidigen sich verbissen
Er weiss, warum die Ukrainer gerade Kreminna im Blick haben: "Wenn sie es nehmen würden, hätten sie die Möglichkeit, Sjewjerodonezk vom Norden zu bedrohen." Sjewjerodonezk zählte vor dem Krieg rund 100.000 Einwohner und war ein bedeutender Standort der Chemieindustrie in der Ukraine.
Sjewjerodonezk war im Juni von russischen Truppen besetzt worden und bis dahin eine der letzten grossen Städte in der Region Luhansk, die noch unter der Kontrolle von Kiew standen. Die Stadt ist, ebenso wie das benachbarte Lyssytschansk, von strategischer Bedeutung: Dieser Teil des Donbass stellt die Verbindung zu anderen Regionen der Ukraine her. Besondere Bedeutung hat die Autobahn, die Lyssytschansk mit Bachmut in der Region Donezk verbindet.
"Dementsprechend verbissen verteidigen die Russen", kommentiert Gressel. Er vermutet aber, dass die Angriffe abnehmen werden. "Die Lage um Bachmut und Svatove bindet immer mehr ukrainische Reserven und man hat zu wenig Kräfte, diese Angriffe zu nähren und Durchbrüche auszunutzen", analysiert der Experte.
Wo die heftigsten Kämpfe stattfinden
Die Stadt Bachmut gilt aktuell als eine der am heftigsten umkämpften Städte. Vor dem Krieg lebten hier 70.000 Menschen, heute harren nur noch knapp 8.000 in dem Ort mit menschenleeren Strassen aus. 60 Prozent der Stadt sollen laut ukrainischer Regionalverwaltung zerstört sein.
"Vor allem die paramilitärische Organisation Gruppe Wagner versucht Bachmut vom Norden her zu umfassen", sagt Gressel. Bachmut selbst sei zu stark befestigt, um es direkt anzugreifen, daher versuchten die Russen es von Norden und Süden zu umgehen. Gressel hat bereits den nächsten heiss umkämpften Abschnitt im Blick: Soledar, nördlich von Bachmut gelegen.
"Hier gelang den Russen letzte Woche ein Durchbruch und die Ukrainer haben immer noch Mühe, diesen aufzufangen", sagt Gressel. Der Durchbruch habe aber keine operativen Konsequenzen, da die russischen Kräfte nicht in der Lage gewesen seien, ihn rasch auszunutzen und in die Tiefe des Raumes durchzustossen. "Die schlechte Koordination zwischen Wagner und der Armee halte ich für einen wichtigen Grund, warum das nicht geklappt hat", analysiert er.
Russen machen taktische Fortschritte
Allerdings machten die Russen taktische Fortschritte: "Ein Waldstück hier, ein Stellungssystem da. Die Ukrainer müssen rasch Reserven einsetzen, um das zu stabilisieren", sagt er. Hielten sie nicht dagegen, müssten sie Bachmut in den nächsten Wochen räumen, weil die russischen Fortschritte im Norden zu gross werden.
Auch im Süden von Bachmut greife die russische Armee an, über die Dörfer von Andriivka und Opytne. "Auch hier gab es kleinere Erfolge", sagt Gressel. Russische Angriffe verzeichne man auch aus dem Raum Horlivka. Dort sei das hügelige Gelände aber günstig für die Verteidigung, sodass die Ukrainer Angriffe abwehren konnten.
Ziel starker Angriffe ist zudem Marjinka. Die Stadt war bereits 2014 zwischen Regierungssoldaten und Rebellen der selbstproklamierten Volksrepublik Donezk schwer umkämpft, stand zuletzt aber wieder unter Kontrolle von Kiew.
Initiative durch Mobilmachung zurückgewonnen
"Durch die Mobilmachung hat Russland die Initiative weitgehend zurückgewonnen, wenn es auch seine gegenwärtige Überlegenheit an Feuerkraft nicht in Geländegewinne umsetzen kann", bilanziert Gressel. Die 200.000 noch in Russland verbliebenen mobilgemachten Kräfte würden nun langsam in die Ukraine einfliessen. Daher sei damit zu rechnen, dass sich die russischen Angriffstätigkeiten in den nächsten Monaten noch verstärken werden.
"Ich gehe aber nicht davon aus, dass man aus Belarus erneut Kiew angreifen will", sagt Gressel. Dazu seien die Kräfte zu gering und der Zeitpunkt wäre auch zu spät. "Im März setzt die Schneeschmelze ein, dann ist Hochwasser in den Prypiatsümpfen", erklärt der Experte. Bei den Prypiatsümpfen handelt es sich um eine Sumpflandschaft im Süden von Belarus und im Nordwesten der Ukraine.
Ukrainer bei der Truppenstärke überlegen
"Ich denke, die Offensive konzentriert sich weiterhin auf den Osten der Ukraine. Die Kräfte in Belarus dienen nur dazu, ukrainische Kräfte und Reserven zu binden und von der Front fernzuhalten", sagt Gressel. Bei der Truppenstärke habe die Ukraine mit etwa 700.000 Mann unter Waffen nach wie vor eine gewisse Überlegenheit. Diese verteilten sich entlang der gesamten belarussisch-ukrainischen Grenze, der russisch-ukrainischen Grenze, der Front und auf Reserven im Hinterland.
"Ich schätze, dass etwa 300.000 Ukrainer an der Front etwa 180.000 bis 200.000 russischen Soldaten gegenüberstehen", sagt Gressel. Russland habe jedoch nach wie vor eine Überlegenheit an Feuerkraft, etwa bei Schützenpanzern und Munition.
Versiegt die russische Munition?
"Seit Monaten wird über ein Versiegen der russischen Munition gesprochen. An der Front merkt man davon nichts", sagt Gressel. Russland verschiesse nach wie vor um die 25.000 Granaten pro Tag, die Intensität des russischen Artilleriefeuers habe sich seit September wenig verändert.
"Aktuelle Satellitenaufnahmen von russischen Bomberstützpunkten zeigen dort über 200 Marschflugkörper, die für den Einsatz gegen ukrainische zivile Infrastruktur vorbereitet werden", sagt der Experte. Auch in diesem Punkt sei deshalb mit einer Fortsetzung der russischen Angriffe zu rechnen; auch, wenn deren Tempo und Intensität in letzter Zeit etwas nachgelassen hätten.
Selbst wenn bei der Geber-Konferenz in Ramstein die militärische Unterstützung der Ukraine seitens des Westens aufgestockt würde, kämen laut Gressel viele Waffenlieferungen zu spät, um etwas zur Abwehr der nächsten russischen Offensive beitragen zu können: "Wir haben zehn Monate mit sinnlosen Diskussionen vergeudet"."
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