Nach schweren Kämpfen in der Region Charkiw konnten die ukrainischen Streitkräfte diesen Frontabschnitt wieder stabilisieren. Doch nun aktiviert die russische Armee eine weitere Sektion: 220 Kilometer südlich bei der Kleinstadt Torezk. Militärexperten sehen einen strategischen Plan hinter der Verlagerung der Kämpfe.
Seit bald zwei Monaten dauert die russische Offensive in der ukrainischen Region Charkiw an. Am 10. Mai hatte Russland Vorstösse an mehreren Stellen rund um die zweitgrösste Stadt der Ukraine gestartet. Doch in den vergangenen Tagen hat sich die Lage an einem anderen Frontabschnitt zugespitzt.
Rund 220 Kilometer südöstlich, im Raum der ukrainischen Kleinstadt Torezk in der Donezk-Region, kommen russische Streitkräfte derzeit stark voran: Innerhalb von vier Tagen machten sie Geländegewinne von rund 1,3 Kilometern. Gleitbomben kommen zum Einsatz, Kampfdrohnen, Artillerie-Hagel. Evakuierungsanfragen von Einwohnerinnen und Einwohnern steigen massiv an.
War die Offensive in Charkiw nur ein Ablenkungsmanöver, um in der Donezk-Region besser voranzukommen oder reagiert Moskau mit neuen Kämpfen im Donbass auf eine gescheiterte Offensive im Norden? Denn: Mittlerweile konnten die ukrainischen Streitkräfte die im Mai neu aufgemachte Front bei Charkiw wieder stabilisieren.
Militärexperte Gustav Gressel sieht den russischen Vorstoss in diesem Sektor als zerschlagen an. Auf Anfrage unserer Redaktion sagt er: "Russland hat auch nicht mehr die Kräfte, alle Angriffsrichtungen weiter und gleichmässig mit frischen Kräften zu nähren. Die russischen Truppen im Norden sind verbraucht."
Experte Gustav Gressel: Klares Ablenkungsmanöver
Lange wurde die Offensive bei Charkiw erwartet. Schliesslich hatte Russlands
Gressel sieht darin ein klares Ablenkungsmanöver seitens Russlands. Einen Tag nach Beginn der Charkiw-Offensive seien parallel sehr schwere Gefechte im Donbass gestartet. "Vor allem an der Ausweitung des Durchbruchs bei Otscheretyne, südwestlich von Awdijiwka, lag den Russen viel."
Der Militäranalyst Hendrik Remmel vom German Institute for Defence and Strategic Studies, der Denkfabrik der Bundeswehr, widerspricht nicht, sieht aber auch einen anderen Punkt: Zunächst, sagt er im Gespräch mit unserer Redaktion, sollte man sich von dem Gedanken lösen, dass es primär um Raumgewinne gehe. Die russische Militärdoktrin ziele im ersten Moment nicht nur darauf ab.
Im Grunde genommen, sagt Remmel, gebe es zwei wesentliche Elemente der Gefechtsführung: Feuer und Bewegung. Nach dieser Manöverdoktrin agieren westliche Staaten vornehmlich. "Man setzt auf Führungsüberlegenheit und hohe Mobilität, um räumlich und zeitlich begrenzte Feuerüberlegenheit zu schaffen. Die russischen Streitkräfte dagegen setzen auf hohe Feuerraten an möglichst vielen Stellen."
So überdehnten sie die ukrainischen Streitkräfte und nutzten sie in letzter Konsequenz so weit ab, dass sie sich der Gefechtshandlung entziehen müssten. "Raumgewinne sind dann nur eine logische Konsequenz eines im Kern kräfteorientierten Ansatzes", erklärt Remmel.
Was hat das aber nun mit der aktuellen Situation an der Front zu tun?
Remmel: "Der derzeitige russische operative Ansatz lässt sich gut in einem Dreiklang erklären: 'Stretch, Starve, Strike'." Würde man die Begriffe in einem militärischen Kontext übersetzen, hiesse das "Überdehnung, Abnutzung, Raumgewinn" - und zwar in genau dieser Reihenfolge.
"Russland versucht bewusst, die Front zu verlängern – mit dem Wissen, über mehr Soldaten als die Gegenseite zu verfügen und auf ausgedünnte ukrainische Verteidigungsstellungen zu treffen", sagt Remmel. "Die Entscheidung über Umfang, Zeitpunkt und Ort der Angriffe liegt derzeit bei den russischen Kräften. Damit haben sie auch die Initiative."
Die ukrainischen Streitkräfte, ausgezehrt durch Munitionsprobleme und einem massiven Personalmangel, müssen jetzt Entscheidungen treffen: Wie sollen sie mit diesen Angriffen umgehen? Sind das ernsthafte Vorstösse, die darauf abzielen, ukrainische Stellungen zu zerschlagen, um dann Geländegewinne zu erzielen? Oder sollen Kräfte gebunden werden, damit sie anderer Stelle fehlen?
Hendrik Remmel: Torezk als Flanke von Tschassiw Jar
Dies, meint Remmel, sei für den ukrainischen Generalstab nicht immer einfach, zu bewerten. Grundsätzlich müsse man zunächst auf solche Angriffe wie in der Region Charkiw reagieren. "Fachkundigen Beobachtern war bewusst, dass die dort eingesetzten circa 30.000 russischen Soldaten nicht ausreichen, um Charkiw einzunehmen. Man musste aber trotzdem reagieren und ukrainische Kräfte in diesen Raum bringen", sagt der Experte.
Andernfalls hätten die russischen Streitkräfte den Schwachpunkt in der ukrainischen Verteidigung ausnutzen können, um etwa ihre Rohrartillerie in Feuerreichweite zur Stadt zu bringen oder mit einem verstärkten Kräfteansatz Teile der Stadt einzunehmen. "Beides hätte eine verheerende Wirkung auf die Moral der ukrainischen Zivilbevölkerung gehabt." Doch jene Soldaten, die nach Charkiw gingen, fehlen eben nun in der Donezk-Region – wo russische Kräfte derzeit wieder Druck ausüben.
Torezk ist, genauso wie das etwas weiter südlich gelegene Nju-Jork, bereits seit langer Zeit Frontgebiet – eine ernst gemeinte Offensive an genau diesem Frontabschnitt hat es aber bisher nicht gegeben. Nun hat Russland offenbar sogar Truppen aus dem lang umkämpften Tschassiw Jar abgezogen, um hier Fortschritte zu machen. Warum? Und warum jetzt?
Für den Hintergrund: Einen aktiven Frontabschnitt gab es bereits länger in der Donezk-Region. Seit Monaten versuchen russische Kämpfer, in die Stadt Tschassiw Jar vorzudringen. Diese liegt westlich der Stadt Bachmut, die Russland vor mehr als einem Jahr eingenommen hatte. Doch in Tschassiw Jar waren Moskaus Truppen ins Stocken geraten.
Lange standen sie östlich eines Kanals am Stadtrand, den die Ukrainer bislang hielten. Informationen eines Militärsprechers zufolge haben sich die ukrainischen Truppen aus diesem Stadtviertel zurückziehen müssen, da ihre Verteidigungsanlage zerstört wurde. Es werde allerdings weiter um die Stadt gekämpft.
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Remmel meint dazu: "In dem Moment, in dem die Russen in urbanen Räumen frontal nicht mehr vorankommen, fangen sie an, Druck auf die Flanken auszuüben." Torezk, rund 20 Kilometer südlich von Tschassiw Jar, sei eine dieser Flanken.
"Man versucht also, den stark verteidigten urbanen Raum in Tschassiw Jar nördlich und südlich zu umgehen und dann operativ einzuschliessen", erklärt der Experte. "Um sich der Vernichtung zu entziehen, müssten die ukrainischen Kräfte die Stadt aufgeben. Dieses Vorgehen konnte zuvor beispielsweise in Awdijiwka und Bachmut beobachtet werden."
Weitere Gefahren: Neue Frontabschnitte und flexiblere Angriffsflächen
Heisst in Summe: Russland hat gleich zwei miteinander verbundene taktische Operationen gestartet: Man führte eine Situation herbei, um Tausende ukrainische Soldaten zu binden – die Charkiw-Offensive. "Stretch". Diese Soldaten fehlen im Donbass – bei Torezk. "Starve". Nun konzentriert man die Front weg vom frontalen Angriff auf Tschassiw Jar, hin zu einer Einkreisung über Landgewinne bei Torezk. "Strike".
Ein Vordringen bei Torezk hätte noch einen weiteren Vorteil für Moskau, den Remmel als bemerkenswert und ebenso gefährlich bezeichnet. "Dieser Vorstoss gibt nicht nur die Möglichkeit, Druck auf Tschassiw Jar auszuüben, sondern auch möglicherweise eine zweite Angriffsachse Richtung Pokrowsk zu eröffnen und damit die Truppen westlich von Awdijiwka zu unterstützen."
Moskau habe erkannt, dass es sich eine operative Flexibilität in diesem Raum generieren könne. "Das ist auch der Grund, warum die Ukrainer westlich von Awdijiwka und westlich von Bachmut Kräfte abziehen: um bei Torezk ein schnelles Vorgehen der Russen zu verhindern."
Der Journalist und Konfliktbeobachter Nikita Gerasimov warnt zusätzlich vor einer stärkeren Ausweitung der Front: "Nicht auszuschliessen ist, dass Moskau demnächst weitere neue Hotspots entlang der russisch-ukrainischen Grenze aufmachen wird", sagt er auf Anfrage unserer Redaktion. "Möglicherweise in der Region Sumy, um die Überdehnung der ukrainischen Verbände weiter zuzuspitzen."
Über die Gesprächspartner
- Hendrik Remmel verfügt über eine mehrjährige Erfahrung als Kampftruppenoffizier und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des German Institut for Defence and Strategic Studies. Einer Denkfabrik der Führungsakademie der Bundeswehr.
- Gustav Gressel ist Experte für Sicherheitspolitik, Militärstrategien und internationale Beziehungen. Er absolvierte eine Offiziersausbildung und studierte Politikwissenschaft an der Universität Salzburg. Schwerpunktmässig befasst sich Gressel mit Osteuropa, Russland und der Aussenpolitik bei Grossmächten.
- Nikita Gerasimov ist freier Journalist und Konfliktbeobachter. An der Freien Universität Berlin ist er zudem als Tutor des Osteuropa-Instituts der Freien Universität Berlin tätig.
Verwendete Quellen
- Video-Gespräch mit Hendrik Remmel
- Schriftliche Anfragen an Gustav Gressel und Nikita Gerasimov
- Hintergrundgespräche mit Einwohnern und Freiwilligen in der Donezk-Region
- tagesschau.de: Ukraine zieht sich teilweise aus Tschassiw Jar zurück
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