Die Bundesregierung erlaubt der Ukraine den Einsatz deutscher Waffen über die Grenze hinweg in russisches Gebiet. Zuvor hatte dies bereits US-Präsident Joe Biden für US-Waffen erlaubt.
Kurswechsel in der deutschen Ukraine-Politik: Das von Russland angegriffene Land darf von Deutschland gelieferte Waffen jetzt auch gegen militärische Ziele in Russland abfeuern. Regierungssprecher Steffen Hebestreit machte die Entscheidung von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Freitagvormittag wenige Stunden nach einer ähnlichen Ankündigung der USA öffentlich. Sowohl Deutschland als auch die USA begründeten den Schritt mit der jüngsten russischen Offensive gegen die ostukrainische Region Charkiw.
"In den letzten Wochen hat Russlands insbesondere im Raum Charkiw von Stellungen aus dem unmittelbar angrenzenden russischen Grenzgebiet heraus Angriffe vorbereitet, koordiniert und ausgeführt", erklärte
"Dazu kann sie auch die dafür gelieferten Waffen in Übereinstimmungen mit ihren internationalen rechtlichen Verpflichtungen einsetzen – auch die von uns gelieferten", ergänzte er. Dazu gehören zum Beispiel die Panzerhaubitze 2000, Raketenwerfer vom Typ Mars II und das Flugabwehrraketensystem Patriot. Mit Patriots könnte die Ukraine theoretisch auch russische Flugzeuge abschiessen, die aus dem russischen Luftraum heraus mit Raketen oder Gleitbomben Ziele in der Region Raum Charkiw angreifen.
Scholz und Biden: Kurswechsel in der Ukraine-Politik
Mit der Freigabe des Einsatzes ihrer Waffen gegen Ziele auch in Russland vollziehen Kanzler
Konkret ging es bei den Auflagen nach Angaben von Militärs unter anderem darum, dass die Ukraine mit Flugabwehrraketensystemen von Typ Patriot keine russischen Kampfflugzeuge im russischen Luftraum abschiessen darf, um zu verhindern, dass diese Raketen oder Gleitbomben auf die Ukraine abfeuern. Wie weitgehend die Auflagen nun aufgehoben sind, blieb zunächst unklar.
Freigabe mit Einschränkungen
Ein US-Regierungsvertreter betonte am Donnerstagabend, dass die US-Freigabe ausschliesslich für Gegenschläge zur Verteidigung der ostukrainischen Grossstadt Charkiw gelte. Das ukrainische Militär solle in die Lage versetzt werden, gegen russische Streitkräfte vorzugehen, "die sie angreifen oder sich vorbereiten, sie anzugreifen". Davon abgesehen bleibe der Einsatz von US-Waffen auf Ziele in Russland aber verboten. Ein deutscher Regierungssprecher sagte auf die Frage, ob es künftig auch an anderen Frontabschnitten denkbar wäre, deutsche Waffen auf russischem Territorium einzusetzen, darüber sei aktuell schwierig zu spekulieren.
Kurz vor den Ankündigungen hatte am Mittwoch und Donnerstag auf Ebene der Nationalen Sicherheitsberater intensive Beratungen zwischen den USA, Frankreich, Grossbritannien und Deutschland gegeben. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hatte sich bereits am Montag öffentlich bei einem Treffen mit Scholz für einen Kurswechsel ausgesprochen. Grossbritannien gilt seit jeher als wenig zimperlich, was den Einsatz von westlichen Waffen gegen Ziele in Russland angeht.
Spannungen in der Bundesregierung
In Deutschland hatte nach Angaben aus Regierungskreisen vor allem Kanzler Scholz bislang darauf bestanden, Auflagen nicht vorschnell zu lockern. Aussenministerin Annalena Baerbock (Grüne) und auch Verteidigungsminister
Scholz hatte einen möglichen Kurswechsel zuletzt aber bereits vorbereitet. Bei seinem Auftritt mit Macron liess er durchblicken, dass er zumindest rechtlich keine Probleme sähe. Die Ukraine dürfe sich nach Völkerrecht verteidigen – und für die Nutzung der aus Deutschland gelieferten Waffen gelte ebenfalls, dass sie sich im Rahmen des Völkerrechts bewegen müsse. Das Völkerrecht erlaubt es angegriffenen Staaten nach Ansicht von Experten, Aggressoren auch auf deren eigenem Territorium zu attackieren, um sich zu verteidigen.
Scholz' Taktik: Gibt USA wieder den Takt an?
Zugleich sprach Scholz noch am Donnerstagabend bei einem Bürgergespräch in Erfurt von Vereinbarungen, die man mit der Ukraine über den Waffeneinsatz getroffen habe. Über den Inhalt dieser vertraulichen Absprache verrät die Bundesregierung nichts.
Unklar blieb am Freitag, ob Scholz auch die Freigabe eigentlich geheim halten wollte und nur kommunizierte, weil dies am Vorabend auch die USA machten. Oder ob er Deutschland absichtlich erneut im Schatten der USA positionieren wollte. Eine solche Taktik verfolgte der Bundeskanzler bereits, als es um die Lieferung von Kampfpanzern in die Ukraine ging. Er liess den grossen Partner USA den Takt angeben – wohl auch, damit Deutschland in Russland nicht als Treiber der internationalen Ukraine-Unterstützung gesehen wird.
Denn Scholz' grösste Angst ist, dass die Bundesrepublik in den Krieg hineingezogen werden könnte. Immer wieder betont er, dass Deutschland sich nicht direkt daran beteiligen wird. Deshalb das Nein zur Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern mit grosser Reichweite – das laut Verteidigungsminister Pistorius auch weiter gilt. Und deshalb auch die ganz klare Haltung, keine deutschen Soldaten in die Ukraine zu schicken. Der stellvertretende Regierungssprecher Wolfgang Büchner betonte am Freitag in Berlin direkt, es habe sich nichts geändert: "Das war immer klar, dass wir, indem wir der Ukraine Waffen zur Verfügung stellen, nicht Teil und nicht Kriegspartei werden."
Trägt Scholz' "Kurs der Besonnenheit" weiter?
Auf den selbst so bezeichneten "Kurs der Besonnenheit" im Ukraine-Krieg setzen Scholz und seine SPD ganz stark in den Wahlkämpfen dieses Jahres – bei der Europawahl und den Landtagswahlen im Osten – und sicher auch im Bundestagswahlkampf 2025. Die Botschaft: Dieser Kanzler und seine Partei gehen kein Risiko ein, dass der Krieg zu uns nach Hause eskaliert. Doch trägt diese Erzählung angesichts der neuesten Waffen-Entscheidung noch? BSW-Parteigründerin Sahra Wagenknecht warnte in der "Augsburger Allgemeinen" bereits, Scholz bringe Deutschland "einem Dritten Weltkrieg beängstigend nahe".
Druck auf Scholz und Biden hatte in den vergangenen Tagen vor allem auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg ausgeübt. Er begrüsste die Neuigkeiten am Freitag und machte erneut deutlich, dass er keine unverantwortlichen Eskalationsrisiken oder sogar Vergeltungsschläge gegen Nato-Staaten befürchtet.
Auf entsprechende Fragen von Journalisten sagte er am Freitag in Prag, der russische Präsident habe bereits zu Beginn der Invasion Konsequenzen angedroht, sollten andere Länder die Ukraine unterstützen, und dies sei dann bei allen konkreten Waffenlieferungen so weitergegangen. Es sei letztlich so, dass ausschliesslich Russland immer weiter eskaliere – zuletzt indem es in der Region Charkiw eine neue Front eröffnet habe. (Ansgar Haase und Theresa Münch, dpa/tas)
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