• Die russischen Streitkräfte verzeichnen erhebliche Gebietsgewinne im Osten der Ukraine, Präsident Selenskyj spricht von einer "sehr, sehr schwierigen Lage".
  • Wieso war die Offensive der Russen plötzlich erfolgreich und könnten westliche Waffenlieferungen das Kräfteverhältnis wieder umkehren? Militärexperte Gustav Gressel analysiert den aktuellen Stand.
Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzung der Autorin bzw. des zu Wort kommenden Experten einfliesst. Hier finden Sie Informationen über die verschiedenen journalistischen Textarten.

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In der vergangenen Woche ist es erneut zu intensiven Kämpfen im Donbass gekommen – mit grossen Erfolgen für die russische Armee. Sie konnte erhebliche Gebiete erobern und soll nun mehr als 95 Prozent der Region Luhansk besetzt halten. Die Ukrainer sehen sich in einer brenzligen Lage: Sie könnten bald an strategisch wichtigen Orten eingekesselt werden.

Derzeit bewegen sich die russischen Streitkräfte in Richtung Nordwesten. "Es gab russische Durchbrüche in nicht unerheblichem Masse aus dem Raum Popasna", bestätigt auch Militärexperte Gustav Gressel. Die Anfang Mai an Russland gefallene Stadt habe eine Delle in die ukrainische Front südlich von Sewerodonezk gedrückt.

Sewerodonezk im Fokus

"Die Ukrainer haben versucht, die Durchbrüche wieder einzufangen und ihre eigenen Versorgungslinien nach Sewerodonezk zu sichern", analysiert Gressel. Die Versorgungslinien würden nun eng an russischen Frontlinien vorbeilaufen. "Die Russen haben dabei von Hügeln in dieser Region einen guten Überblick über die ukrainischen Nachschubbewegungen und können sie mit Artillerie angreifen", beobachtet der Experte.

Das mache die Versorgung der Kräfte in Sewerodonezk schwierig. "Gleichzeitig steht die Stadt unter russischem Dauerbeschuss", sagt Gressel. Noch sei sie nicht gefallen, aber es gebe nur noch eine funktionsfähige Brücke.

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Sieg mit Propaganda-Wirkung

Für den Experten ist es daher nur noch eine Frage der Zeit, bis die Stadt an die Russen fällt. "Es wird auch bereits vermeldet, dass Sewerodonezk durch die Ukrainer selbst aufgegeben wurde, um sich nach Luhansk zurückzuziehen und dort eine bessere Verteidigungslinie zu haben", weiss Gressel. Der Sieg über Sewerodonezk – er wäre dennoch ein Propaganda-Geschenk für den Kreml: Die Stadt war in den letzten Jahren Ersatzhauptstadt für die Teile der Oblast Luhansk, die im Ostukrainekonflikt unter ukrainischer Kontrolle verblieben.

"Die Ukrainer haben die Situation zwar durch Gegenangriffe insgesamt ein bisschen unter Kontrolle gebracht, es bleibt aber noch brenzlig", sagt Gressel. Hinzukommt, dass die russischen Kräfte einen weiteren Erfolg feiern konnten: Sie sind auch bei Lyman durchgebrochen, der nördlichsten Stadt in der Oblast Donezk.

Selenskyj: "sehr, sehr schwierige Lage"

Nun bewegen sich russische Einheiten auf das nahegelegene Slowjansk zu, eine der wichtigsten Städte der gesamten Region. "Es handelt sich um einen wichtigen Eisenbahnknotenpunkt", erklärt Gressel. Die Verteidigung des Donbass dürfte für die ukrainische Armee dadurch zusätzlich erschwert sein. Auch Präsident Selenskyj sprach von einer "sehr, sehr schwierigen Lage".

Das sieht auch Experte Gressel so: "In dem Raum um Luhansk befinden sich ukrainische Elite-Einheiten. Wenn sie eingekesselt und abgeschnitten werden, wäre das für die Ukrainer ein sehr schwerer Schlag."

Wie waren die Erfolge möglich?

Wie aber war ein solcher Angriff der Russen plötzlich möglich? Schliesslich hatten internationale Beobachter den russischen Kräften zuletzt jede Menge Schwächen attestiert. Experte Gressel sieht mehrere Gründe. "Die Russen haben starke Kräfte um Popasna zusammengezogen, vor der Offensive war das aber in keinem Bericht zu lesen", sagt er. Das Kräftezusammenziehen sei vermutlich unbemerkt geblieben – im Stillen seien Kräfte herangebracht worden.

"Auf keinem Kommunikationsweg, der von den Ukrainern mitgehört wird, wurde das anscheinend angekündigt", schätzt Gressel. Gleichzeitig sei es überraschend, dass die Brigarde, die zuletzt in Mariupol kämpfte, schon wieder fit gemacht wurde. "Das war nicht unbedingt zu erwarten", so Gressel.

Erste erfolgreiche Offensive

Der Angriff sei ausserdem deutlich besser koordiniert gewesen als viele Angriffe in der Vergangenheit. Dennoch handele es sich um den ersten erfolgreichen Angriff der gesamten Donbass-Offensive. "An anderen Stellen kommen die Russen nicht weiter", erinnert Gressel. Es müsse sich daher in Zukunft zeigen, ob die Russen ihren Angriff ausweiten oder die Ukrainer sie zum Stehen bringen können.

"Wahrscheinlich werden die Russen über kurz oder lang Sewerodonezk einnehmen können", glaubt Gressel. Dann würden sich jedoch die Fragen stellen: "Zu welchem Preis? Was bedeutet das für die Offensiv-Fähigkeit der Russen bis in den Spätsommer?".

Westen erneut in der Kritik

Aus Sicht von Gressel besteht noch immer die Chance, dass die russischen Streitkräfte im Spätsommer so stark abgenutzt sind, dass die Ukraine Gegenoffensiven starten kann. Derzeit seien die ukrainischen Kräfte aber auch damit beschäftigt, Russland im Süden von einer Annektion der Hafenstadt Cherson abzuhalten.

"Da kommt es ungelegen, dass die westliche Unterstützung der Ukraine nicht so einig und stark ist", kommentiert Gressel. Es mangele der Ukraine an mobilen, gepanzerten Kräften. "Zudem haben die russischen Angriffe auf die Verteidigungsindustrie zu erheblichen Lücken im Munitions- und Treibstoffvorrat geführt", beobachtet er. Diese Lücken machten sich bereits bemerkbar.

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Debatte hinkt hinterher

Das Problem sei, dass es das System der ukrainischen Raketenartillerie im Westen nicht gäbe. "Wir haben also keine Möglichkeit, die Ukraine hier mit Munition zu versorgen und die Fabriken, die die Ukraine zuvor mit Munition versorgt haben, sind zerstört worden", sagt Gressel. Die Ukraine brauche deshalb etwas anderes, um die Feuerlücke zu schliessen.

Insgesamt hält der Experte die Diskussion im Westen für zu reaktiv. "Wir diskutieren immer, was die Ukraine aktuell braucht und liefern dann. In den Bereichen Fliegerabwehr, Panzer und geschützter Transport müssen wir viel weitreichender planen und denken", fordert er.

Was Deutschland liefern könnte

Die Einführung neuer Waffensysteme brauche Vorlaufzeit. "Die Besatzungen müssen schliesslich trainiert werden und eine Versorgungskette für Reparaturen muss etabliert werden", sagt Gressel. Deutsche Lieferungen allein würden die Ukraine zwar nicht retten, mit seiner zögerlichen Haltung nehme Deutschland der Ukraine aber wichtige Chancen.

"Dass Deutschland gewisse Klassen an Rüstungsgütern kategorisch ausschliesst, kostet politisch enorm viel – im Ausland stösst das auf Unverständnis und Ablehnung", sagt Gressel. Deutschland könnte aus seiner Sicht mehr liefern – beispielsweise den Kampfpanzer "Leopard 1", Lastkraftwagen mit Container-Ladesystem oder das Luftverteidigungssystem "Iris T". Die Hoffnung des Experten, dass dies geschehen wird, ist jedoch gering.

Über den Experten:

  • Gustav Gressel ist Experte für Sicherheitspolitik, Militärstrategien und internationale Beziehungen. Er absolvierte eine Offiziersausbildung und studierte Politikwissenschaft an der Universität Salzburg. Schwerpunktmässig befasst sich Gressel mit Osteuropa, Russland und der Aussenpolitik bei Grossmächten.
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