- Russland hat die Ukraine überfallen und das Land von mehreren Seiten angegriffen. Tausende Menschen versuchen zu fliehen, es gibt bereits knapp 200 Tote und mehr als 1000 Verletzte.
- Die Brutalität und Entschlossenheit Putins hat in Europa kaum jemand kommen sehen. Deshalb wächst bei Vielen die Sorge: Droht auch hierzulande ein Krieg?
- Brigadegeneral a.D. Reiner Schwalb war sieben Jahre lang Verteidigungsattaché in Moskau und weiss, wie die Russen ticken. Seine Einschätzung kann nicht beruhigen.
Schüsse und Explosionen, Tote und Verletzte: Die Ukraine befindet sich nach dem russischen Angriff im Kriegszustand. Bilder, die bestürzen, gehen um die Welt. Und das nur knapp zehn Autostunden von Berlin entfernt.
Bis vor kurzem hatte das noch kaum einer für möglich gehalten: Dass Putin die ukrainische Hauptstadt Kiew angreift, erschien selbst Ukrainern unvorstellbar. Nun hat der Kreml-Chef mit Panzern, Bomben und Raketen jedoch Tatsachen geschaffen und den ersten Angriffskrieg seit 1939 auf europäischem Boden vom Zaun gebrochen.
Krieg in Deutschland denkbar?
Dass der Krieg in der Ukraine auch Deutschland betrifft, ist seit Anfang an klar: Die militärische Invasion findet auf europäischem Boden statt, die von der EU verhängten Sanktionen werden auch auf Deutschland ökonomische Auswirkungen haben. Die Politik rechnet mit steigenden Energiepreisen und Flüchtlingen aus der Ukraine.
Bei vielen wächst aber die Sorge, dass russische Panzer auch in Deutschland stehen könnten, Reservisten der Bundeswehr zum Einsatz eingezogen werden – auch Deutschland in militärischer Gefahr ist. "Seit heute Morgen leben wir in einem anderen Europa. Seit heute Morgen ist nicht mehr sicher, wie sicher wir alle sind", kommentierte Georg Schwarte kurz nach Kriegsbeginn in der "Tagesschau".
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Bei Angriff greift der Bündnisfall
In direkter Nachbarschaft der Ukraine oder Deutschlands liegen viele Länder des ehemaligen Sowjet-Blocks. Dazu zählen zum Beispiel Polen, Rumänien, Ungarn und die Slowakei. Strebt Putin an, Russlands Macht auf Gebiete in diesen Ländern auszuweiten, droht auch Deutschland ein Krieg.
Denn: Überschreiten russische Panzer die Grenze eines Nato-Mitgliedstaates, greift nach Artikel 5 der Bündnisfall: Ein Angriff auf ein Mitgliedsland wird wie ein Angriff auf die gesamte Nato gewertet und würde die gesamte militärische Schlagkraft der Nato auf den Plan rufen.
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Ex-General: "Wie ein Selbstmordattentat"
Brigardegeneral a.D. Reiner Schwalb war sieben Jahre lang Verteidigungsattaché in Moskau. Er hält einen flächendeckenden Krieg in Europa für unwahrscheinlich. "Was Russland jetzt aktuell macht, tut es unter anderem, weil es keine Nato-Erweiterung will. Diese hält der Kreml nämlich für eine Bedrohung", erinnert Schwalb. Es sei daher "vollkommen unsinnig", sollte Russland einen Krieg mit der Nato vom Zaun brechen.
"Ein Krieg mit der Nato käme einem Selbstmordattentat gleich", sagt Schwalb. Die Beistandspflicht nach Artikel 5 kam in der Geschichte des Bündnisses bislang erst einmal zum Tragen: Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001. "Im Bündnisfall würde Deutschland keine Zurückhaltung üben", ist sich der ehemalige General sicher.
Nato verstärkt Ostflanke
Dass Russland riskieren wird, mit allen 30 Bündnispartnern von den USA über die Türkei bis hin zu Deutschland im Krieg zu stehen, glaubt Schwalb allerdings nicht. "Wenn Russland solche Intentionen hätte, hätte es jetzt nicht seine gesamten einsatzfähigen Landstreitkräfte um die Ukraine herumversammelt", analysiert er.
Dann hätte Putin Truppen auch in der Oblast Kaliningrad oder Oblast Leningrad verstärkt, schätzt der ehemalige Brigadegeneral. In Reaktion auf die russische Invasion hat die Nato ihre Truppen an der Ostflanke abermals verstärkt. Vergleichbar mit dem russischen Truppenaufmarsch ist die Zahl der Soldaten – insgesamt ein paar Tausend – allerdings immer noch nicht.
Einsatz auch ohne Artikel 5?
Sollte es zum Bündnisfall kommen, dürfte die deutsche Bundeswehr erheblich gefragt sein. Der Einsatz von Reservisten wäre dann theoretisch möglich. Auch bereits im Vorfeld wären Militäraktionen der Nato zumindest nicht ausgeschlossen.
"Wenn das Konsens unter den Nato-Mitgliedern wäre – was nicht der Fall ist – könnte die Nato einschreiten. In der Vergangenheit gab es beispielsweise den Nato-Einsatz in Jugoslawien, ohne, dass das Vertragsgebiet war", erinnert Schwalb. Die Legitimität des damaligen Einsatzes aus völkerrechtlicher Sicht allerdings bis heute umstritten. Die Nato versteht sich als Verteidigungsbündnis.
Drohung mit Atomschlag
Putin hat mit "schlimmstmöglichen Konsequenzen" gedroht, sollte sich ihm jemand in den Weg stellen. "Es ist klar, dass er damit Atomwaffen meint", sagt Schwalb. Er hält Putins Aussage in diesem Fall gegenwärtig allerdings für eine blosse Drohung.
"Der Einsatz von Atomwaffen würde für Russland ebenfalls einem Selbstmord-Szenario gleichkommen", meint der Ex-General. Allerdings wäre ein solcher Einsatz, aus Sicht von Schwalb, gegenwärtig innerhalb der russischen Machtelite vermutlich kaum durchzusetzen.
Sollte Putin aber tatsächlich Nuklearwaffen zum Einsatz bringen, könnte natürlich auch Deutschland bedroht sein: Die Systeme, die etwa im Kaliningrad Oblast stationiert sind, könnten Ziele wie Warschau und Berlin erreichen.
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Ex-General: "Jetzt die Initiative ergreifen"
"Wir müssen jetzt die Initiative ergreifen. Wir lassen uns von Putin vor ihm hertreiben", sagt Schwalb. Initiative ergreifen, das heisst für ihn: "Wir müssen Putin ein Gesprächsangebot machen, ein Angebot, welches auf seine Grundbefürchtungen eingeht, in dem wir ihm ganz deutlich machen, dass der Krieg nicht nur kurzfristig negative Auswirkungen auf sein Land hat, sondern auf Dauer", erklärt Schwalb. Nur abstrafen erscheint ihm zu wenig zu sein.
Die Initiative müsse von der politischen Spitzenebene bis zur militärischen Ebene ergriffen werden. "Und zwar besser nicht öffentlich, sondern im stillen Kämmerlein", sagt Schwalb. Hinter verschlossenen Türen zu diskutieren, erscheine in einer offenen Gesellschaft zunächst einmal widersprüchlich, die Erfolgsaussichten seien aber grösser.
Dauerhafte Besetzung übersteige Möglichkeiten Russlands
Auch in Russland sei nicht jeder einverstanden mit dem, was Putin mache. "Nur so kann Putin nämlich am Ende herauskommen und sagen: Ich höre jetzt damit auf", meint Schwalb. Für das realistischste Szenario hält Schwalb einen solchen Ausgang allerdings selbst nicht. "Man sollte es trotzdem anstreben", rät er. Aus seiner Sicht dürfte es für Putin aktuell primär darum gehen, eine neue Regierung in der Ukraine zu installieren.
"Seine militärischen Aktionen sprechen zumindest für dieses Ziel und nicht dafür, dass er das ganze Land erobern will", analysiert Schwalb. Denn im anderen Fall hätte Putin mit deutlich mehr Raketen- und Luftangriffen beginnen müssen, so der Ex-General. Eine dauerhafte Besetzung übersteige zudem die militärischen Möglichkeiten Russlands.
"Aus dem, was er derzeit tut, schliesse ich, dass es ihm eher um einen Regierungswechsel geht, als um die Zerstörung von möglichst viel Infrastruktur", sagt Schwalb. Doch damit könne der Plan noch nicht abgeschlossen sein.
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"In der Ukraine gibt es eine Tradition für Partisanenkampf, da kehrt kein Frieden ein, nur weil Putin eine neue Regierung installiert", erinnert Schwalb. Wie es in den nächsten Tagen und Wochen weitergeht, dass kann auch Schwalb schwer sagen. "Bei dem irrationalen Verhalten von Putin, welches wir derzeit sehen, ist nichts auszuschliessen", sagt er.
Verwendete Quellen:
- "Tagesschau": Die Stunde der Europäer. 24.02.2022
Korrektur: In einer früheren Version des Artikels entstand der Eindruck, dass Polen, Rumänien, Ungarn und die Slowakei Teil der Sowjetunion gewesen seien. Dies ist nicht korrekt. Tatsächlich waren die Länder Teil des Warschauer Paktes (das Äquivalent zur Nato) und damit Teil des Sowjet-Blocks, eines Rings von Satellitenstaaten, die unter Einfluss der Sowjetunion standen. Wir haben die entsprechende Textpassage angepasst.
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