• Mehr als eine Millionen Menschen sind aus der Ukraine bereits vor Putins Panzern und Raketen geflohen. Die meisten zieht es nach Polen.
  • Der Andrang ist hoch, die Aufnahmebereitschaft gross.
  • Chris Melzer ist für das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR vor Ort. Er berichtet von Szenen, die Mut machen und fordert Unterstützung.

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Putin ist mit seinen Panzern und Raketen in ihr Land einmarschiert und verbreitet Angst und Schrecken: Mehr als eine Million Ukrainer sind nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR seit der russischen Invasion bereits aus ihrem Heimatland geflohen.

Das Hilfswerk selbst plant mit Zahlen von bis zu vier Millionen Menschen – mit Spielraum nach oben.

In der Ukraine leben knapp 44 Millionen Menschen. Die meisten Flüchtlinge zieht es nach Polen, das Land hat bereits über 500.000 Menschen aufgenommen.

Riesenandrang in wenigen Tagen

Dort ist Chris Melzer vor Ort. Er ist Teil des "Emergency Response Teams", einer Spezialtruppe des UNHCR, das innerhalb von 72 Stunden auf der ganzen Welt sein kann.

Donnerstagabend der vergangenen Woche wurde Melzer aktiviert, einen Tag später war er bereits in Polen. Nun klappert er vor Ort die acht verschiedenen Grenzübergänge ab, spricht mit Flüchtlingen, Grenzwachen, Regierungsvertretern.

Melzer hat schon viel gesehen: War in Äthiopien am Horn von Afrika ebenso im Einsatz wie in Bangladesch, als die Rohingya aus Myanmar kommen.

Eine vergleichbare Situation wie in den Nachbarländern der Ukraine hat aber auch er noch nicht erlebt. "Die Zahlen waren bei anderen Flüchtlingssituationen zwar vergleichbar, aber da kamen die Menschen über drei Monate verteilt", erinnert Melzer. Nun seien in wenigen Tagen hunderttausende Menschen angekommen.

"Grösste Flüchtlingskrise des Jahrhunderts"

Noch ist Syrien, wo vor 11 Jahren ein Bürgerkrieg ausbrach, mit über 5,6 Millionen Menschen das Land mit der grössten Flüchtlingsbewegung.

Das könnte sich schnell ändern: UNHCR-Sprecherin Shabia Mantoo sagte vergangene Woche, dass bei diesem Tempo die Flüchtlingsströme aus der Ukraine das Land zur Quelle der grössten Flüchtlingskrise des Jahrhunderts machen könnten.

Noch ist Polen aus Sicht von Melzer gut vorbereitet, doch auch das könne kippen. "Der Andrang ist enorm, aber die Regierung hat schnell reagiert", sagt er.

Schnell wurden knapp 30 Aufnahmezentren eröffnet, beispielsweise im grenznahen Korczowa im Südosten Polens.

Von Hilfsbereitschaft überrascht

"Die erste Registrierung funktioniert gut, es gibt sogar noch freie Plätze", berichtet Melzer. Meist blieben die Menschen nur für 24 Stunden, würden mit Essen und Hygieneprodukten versorgt. "Viele Freiwillige helfen mit – Nonnen, Pfadfinder, Vertreter von Hilfsverbänden", sagt er.

Auch ausserhalb der Aufnahmezentren hat ihn die Hilfsbereitschaft der Polen überrascht.

"An den Grenzen stehen Polen, die Telefonkarten verschenken. Auf Pappschildern schreiben andere: ‚Wo wollt ihr hin, ich fahre euch‘", erzählt Melzer.

Viele würden anbieten, Familien bei sich zuhause aufzunehmen. Das Engagement sei gross.

Grössere Aufnahmebereitschaft

Grösser als 2015, als ebenfalls hunderttausende Menschen Asyl suchten – vorrangig aus dem Nahen Osten und Afrika. "Die Aufnahmebereitschaft ist jetzt viel höher", sagt auch Melzer.

Bei den Fluchtbewegungen vor sieben Jahren hätten sich die osteuropäischen Regierungen viel stärker versperrt. "Vor den ukrainischen Flüchtlingen jetzt nahm Polen nur wenige Tausend Menschen auf", erinnert Melzer.

Die offizielle Lesart dafür laute: "Es handelt sich fast nur um Frauen und Kinder, nicht um Männer, die in ihrem Heimatland vielleicht kämpfen könnten. Damals sind die Flüchtlinge ausserdem aus Sicht der Offiziellen in Polen schon durch diverse sichere Länder gereist, jetzt handelt es sich um Menschen, die direkt aus einem bedrohten Land kommen", hat Melzer in Gesprächen mit politischen Vertretern immer wieder gehört.

"Es gibt eine sehr grosse ukrainische Diaspora in Polen, das entlastet die Infrastruktur extrem", sagt er. Oft hätten Ukrainer Verwandte oder Bekannte, bei denen sie unterkommen könnten.

Wie lange Polen dem Andrang noch standhält, bleibt aber unklar.

In den ersten Tagen sei der Andrang an den Grenzübergängen so gross gewesen, dass Menschen drei Tage im Stau gestanden hätten. "Nachts herrschen Minusgrade, die Menschen haben nicht immer etwas zu essen, keine richtige Toilette und werden zudem von der Ungewissheit geplagt, gerade vielleicht ihren Mann verlassen zu haben und nicht zu wissen, was auf sie zukommt", sagt Melzer.

Man müsse befürchten, dass sich die Lage weiter verschlechtere.

Zahlen in Slowakei rückläufig

Die ukrainischen Nachbarländer, wozu auch Rumänien, Slowakei, Ungarn und die Republik Moldau zählen, bräuchten deshalb Unterstützung. "Das gilt für Erstaufnahmeländer allgemein", erinnert Melzer.

Auch an der Grenze zu Rumänien gibt es Warteschlangen von bis zu 20 Stunden, um einzureisen. "Die Bevölkerung hilft grosszügig bei Transport und Unterbringung der Flüchtlinge, während private Unternehmen für Hotels aufkommen", informiert das UN-Hilfswerk auf seiner Website.

Freiwillige unterstützten mit Übersetzungen.

In Moldau dauere es derzeit rund 24 Stunden, um die rund 60 km zwischen Odessa und der Grenze zu Moldau zurückzulegen, in der Slowakei seien die Ankunftszahlen bereits rückläufig. "Die Regierung verfolgt aber weiterhin eine offene und aufnahmebereite Politik gegenüber Flüchtlingen und hat die Asylgesetze rasch geändert, um die Asylverfahren zu beschleunigen", informiert das Hilfswerk.

Wenige kommen nach Deutschland

Anja Weiss ist Migrationsforscherin. Sie kann erklären, warum es die Ukrainer gerade vor allem in die Nachbarländer zieht. In Deutschland sind nach offiziellen Angaben bislang sehr wenige ukrainische Flüchtlinge angekommen.

Deutschland bereitet sich jedoch auf die Aufnahme tausender Menschen vor.

"Viele Menschen hoffen, wieder in ihr Heimatland zurückzukehren und oft fehlt das Geld, um weiterzukommen als ins Nachbarland", sagt Weiss.

In den Nachbarländern ähnelten sich häufig Sprachen und Menschen hätten ähnliche historische Erfahrungen gemacht.

Gemeinsame historische Erfahrung

"Die Menschen im Baltikum wissen zum Beispiel, wie es sich anfühlt, ein post-sowjetisches Land zu sein", erklärt Weiss.

Das sei auch ein Grund, warum nun gerade die osteuropäischen Länder die Ukraine-Flüchtlinge mit offenen Armen aufnehmen würden.

"Viele Ukrainer möchten nach Kriegsende aber wieder zurück in ihr Heimatland", ist sie sich sicher. Deshalb sei bei der Flucht die Frage, ob das Nachbarland Polen nun EU-Mitglied sei, Moldau aber nicht, keine zentrale Frage.

"Es dürfte eher darum gehen, welche Grenze am nächstgelegensten ist. Belarus, welches den Angriff unterstützt, scheidet zudem als Fluchtziel aus", ergänzt sie.

Rückkehr in das Heimatland

Für die grosse Mehrheit der Flüchtlinge dürfte für ihren weiteren Weg deshalb entscheidend sein, wie es in ihrem Heimatland weitergehe. "Wenn Putin das Land besetzt und ein Marionetten-Regime installiert, stehen die Zeichen natürlich anders, als wenn es ihm nicht gelingt", so die Expertin.

Wie die Aufnahme-Gesellschaften reagierten, hänge vor allem von der Frage ab, ob die Bevölkerung sympathisieren könne oder nicht. Ist man vielleicht selbst als Kind vertrieben worden? Wie steht man selbst gesellschaftlich da? Welche Bilder von Flüchtlingen werden in den Medien gezeigt?

"Solche Fragen spielen da eine Rolle", erklärt Weiss.

Aktuell sei die Situation der Ukraine-Flüchtlinge sowohl rechtlich als auch migrationswissenschaftlich eindeutig. "Sie fliehen vor Krieg und sie wollen im Moment noch möglichst nah bei ihrem Zuhause bleiben", erläutert Weiss.

Weiss hält es generell für bedeutend, auch Zwischentöne im Blick zu behalten: "Es gibt nicht nur gute ukrainische Flüchtlinge und böse Russen", betont sie.

Über die Expert*innen:

Prof. Dr. Anja Weiss lehrt im Fachgebiet Soziologie mit Schwerpunkt Makrosoziologie und transnationale Prozesse an der Universität Duisburg-Essen.
Chris Melzer ist Pressesprecher beim Flüchtlingshilfswerk UNHCR.

Verwendete Quellen:

  • UNHCR Deutschland: UNHCR mobilisiert Hilfe für Vertriebene in der Ukraine und in den Nachbarländern.
  • UNHCR: 1 million refugees have fled Ukraine in a week.
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