• Die Bilder aus der ukrainischen Stadt Butscha haben dazu veranlasst, Russland Kriegsverbrechen vorzuwerfen.
  • Zwei Experten erklären im Interview, wie man bei der Dokumentation solcher Verbrechen vorgeht und was die Politik neben Sanktionen unternehmen sollte.
Ein Interview

Die Bilder, die aus dem Kiewer Vorort Butscha um die Welt gehen, schockieren die internationale Gemeinschaft. Leichen zahlreicher Zivilistinnen und Zivilisten zeugen von unvorstellbarer Grausamkeit. Menschenrechtsorganisationen haben die Taten dokumentiert und werfen Russland Kriegsverbrechen vor.

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Beate Streicher, eine Expertin von Amnesty International, und Wenzel Michalski, der Deutschland-Chef von Human Rights Watch, erklären im Interview mit unserer Redaktion, wie man bei der Dokumentation von Kriegsverbrechen vorgeht und was man beachten muss.

Mit der Rückeroberung der Region um die Hauptstadt Kiew hat sich der ukrainischen Armee ein Bild des Grauens geboten. Bilder aus der Kleinstadt Butscha zeigen zahlreiche erschossene Zivilisten. Warum ist es wichtig, diese Verbrechen nun zu dokumentieren?

Beate Streicher: Die Situation ist extrem dynamisch und es ist nicht einfach, die Dokumentation voranzubringen. Es ist aber die einzige Chance, wenn man im Nachgang durch Gerichtsverfahren zu Gerechtigkeit beitragen möchte. Damit diese Verbrechen nicht straflos bleiben, muss man jetzt schon Beweise sichern. Das ist auch für Betroffene von enormer Bedeutung.

Wenzel Michalski: Wenn man so etwas nicht dokumentiert und Verantwortliche in Gerichtsverfahren nicht zur Verantwortung gezogen werden, wissen die Täter ausserdem, dass sie ungestraft davonkommen und werden beim nächsten Mal genauso handeln. Solche unbeschreiblichen Grausamkeiten sehen wir nur, weil die russische Armeeführung die Taten mindestens duldet. Sie lässt ihren Soldaten, die vielleicht bislang unauffällige Bürger waren, freie Hand, im Krieg als Mörder und Vergewaltiger zu agieren.

Interviews und Krisenteams: So funktioniert die Dokumentation von Kriegsverbrechen in der Ukraine

Sowohl Ermittler der Nichtregierungsorganisation Amnesty International als auch von Human Rights Watch haben russische Kriegsverbrechen in Berichten dokumentiert. Dazu zählen zum Beispiel Hinrichtungen von Zivilisten, Bombardierungen von Wohngebieten, Plünderungen, der Einsatz verbotener Waffen und Vergewaltigungen. Wie geht man bei der Dokumentation vor?

Streicher: Bei Amnesty International arbeiten zwei Krisenteams parallel: Eins vor Ort in der Ukraine, das mit Augenzeuginnen und Augenzeugen sowie Opfern spricht, aber auch Waffenüberreste untersucht. Ausserdem gibt es ein digitales Krisenteam, das Videos, Fotos und Satellitenbilder prüft.

Michalski: Wir interviewen möglichst viele verschiedene Menschen, denn jeder nimmt ein Geschehen aus seiner Perspektive anders wahr. Wenn möglich, sprechen wir auch mit Tätern. Oft wollen sie nichts aussagen, aber es gibt auch immer wieder solche, die mit ihren Taten angeben oder sich ihres Unrechts gar nicht bewusst sind. Die Aussagen gleichen wir mit Fotos, Videos, Satellitenaufnahmen und Posts in den sozialen Medien ab. In manchen Fällen, wie jetzt in Mariupol, arbeiten wir auch mit Architekten zusammen, die digital Ruinen wieder auferstehen lassen, um uns ein besseres Bild vom Tatort zu machen.

Wie verifiziert man Fotos, Videos oder die Berichte von Opfern und Augenzeugen? Schliesslich werden im Krieg Desinformation und Propaganda ebenfalls als Waffe eingesetzt.

Streicher: Das ist eine Mammutaufgabe. Unsere Krisenteams gleichen dafür die einzelnen Berichte untereinander ab, ziehen aber auch zum Beispiel Wetterdaten und Strassenansichten hinzu. Wenn es beispielsweise ein Hinrichtungsvideo gibt, das an einem bestimmten Ort gedreht worden sein soll, überprüfen wir: Steht dort wirklich ein Baum an dieser Stelle? Passen die Lichtverhältnisse? Es ist immer ein Bündel an Faktoren, welches eine Quelle glaubwürdig macht.

Michalski: Je mehr Material es gibt, desto besser. Denn dort, wo Fakten aus unterschiedlichen Quellen übereinstimmen, kann man mit hoher Wahrscheinlichkeit sagen, dass eine Aussage zutrifft. Dafür analysieren wir Videos, Fotos und Satellitenbilder und ziehen auch deren Metadaten heran – also wann und wo ein Bild aufgenommen wurde. Wenn es zum Beispiel von einem Angriff auf eine Wohngegend möglichst viele Aufnahmen aus unterschiedlichen Winkeln gibt, erhöht das die Glaubwürdigkeit.

Bombardierung von Wohnvierteln ist ein "riesengrosses Kriegsverbrechen"

In den Berichten der Menschenrechtsorganisationen liest man etwa von einer Frau, die mehrmals von einem Soldaten in einer Schule in der Region Charkiw vergewaltigt wurde, wo sie Zuflucht gefunden hatte. Sie berichtete, der Mann habe sie geschlagen und ihr mit einem Messer in Gesicht, Hals und Haare geschnitten. Wie erträgt man solche Schilderungen?

Streicher: Um Interviews mit Augenzeuginnen und Augenzeugen zu führen, muss man speziell ausgebildet sein. Denn die Menschen, die Kriegsverbrechen durchleben mussten, müssen vor Retraumatisierungen geschützt werden. Die spezielle Ausbildung bedeutet auch, dass man im Sinne von "Self Care" ("Selbstfürsorge", Anm. d. Red.) lernt, welchen Umgang man persönlich mit schrecklichen Bildern und Schilderungen braucht. Zusätzlich bekommen die Mitarbeitenden Unterstützung durch Supervisionsangebote.

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Handelt es sich aus Ihrer Sicht bei den dokumentierten Kriegsverbrechen um Einzelfälle oder eine Strategie der russischen Armee?

Michalski: Es ist zumindest eine grausame Taktik, um Angst, Schrecken und Irritation auszulösen. Städte werden belagert und aus sicherer Entfernung pulverisiert. Damit zerstört man Lieferketten, Nachschubwege und will so die Kampfbereitschaft der Soldaten und den Widerstand in der Bevölkerung minimieren. Das funktioniert auch auf anderer Ebene: Putin selbst droht durch das Szenario von Nuklearwaffen immer wieder mit dem Schlimmsten und die Welt lässt sich davon einschüchtern. Was wir zudem nicht vergessen dürfen: Die furchtbaren Bilder aus Butscha kamen jetzt zu einem Zeitpunkt, an dem sich viele langsam an zerstörte Häuser und zerbombte Städte in der Ukraine gewöhnt hatten. Allein schon das Bombardieren von Wohnvierteln ist aber ein riesengrosses Kriegsverbrechen.

Streicher: Wir sehen ein breites Muster von Kriegsverbrechen, einschliesslich aussergerichtlicher Hinrichtungen und Folter, die in der Ukraine begangen werden. Es handelt sich dabei jedenfalls nicht um Einzelfälle.

Forderung der Experten: Politik muss unabhängige Untersuchungskommission einsetzen

Sehen Sie Parallelen zu dem russischen Vorgehen in Syrien und Tschetschenien?

Michalski: Eindeutig. Das Plattmachen von ganzen Städten, das gezielte Angreifen von zivilen Einrichtungen wie Kindergärten, Krankenhäusern und Schulen und das Erschiessen von Menschen, die für Lebensmittel anstehen, haben wir schon in Grosny und Aleppo gesehen. Auch der Einsatz von Tretminen, Streubombenmunition und Vergewaltigung zählt zu den grausamen Kriegsverbrechen an der Bevölkerung.

Streicher: Dadurch, dass wir bereits Erfahrungen aus Syrien und Tschetschenien mit dem russischen Vorgehen hatten, konnten wir diesmal schon zu Beginn der Invasion vor schwersten Verbrechen dieser Art warnen. So traurig es ist: Überraschend kommt es nicht, dass nun wieder ganze Städte ausgehungert werden. Die Bilanz der russischen Armee ist in Sachen Menschenrechtsverletzungen desaströs.

Die Kriegsverbrechen wurden politisch bereits aus der gesamten internationalen Gemeinschaft verurteilt, Deutschland und die EU haben weitere Sanktionen angekündigt. Gibt es noch etwas, was nun politisch passieren muss?

Michalski: Die Politik muss dafür sorgen, dass eine unabhängige internationale Untersuchungskommission die Taten in der Ukraine jetzt schnell anschaut und akribisch analysiert. Und zwar zusätzlich zu dem, was die Experten der ukrainischen Staatsanwaltschaft, der EU und des Internationalen Strafgerichtshofes bereits tun. Ein UN-Mandat wirkt noch stärker. Die Russen werden versuchen den Spiess umzudrehen – das wird ihnen bei einem so starken Mandat deutlich schwerer fallen. Die Politik muss versuchen, insbesondere Staaten, die eher mit Russland sympathisieren, davon zu überzeugen.

Streicher: Die Stellen, die Ermittlungen durchführen, müssen personell und finanziell ausreichend ausgestattet sein. Auch Kooperationen sind äusserst wichtig: Es gibt viel Material und eine Person sollte nicht zehnmal befragt werden.

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Über die Experten:
Beate Streicher ist Expertin für Polizei und Menschenrechte, Antirassismus und Völkerstrafrecht bei Amnesty International in Deutschland.
Wenzel Michalski ist Direktor von Human Rights Watch Deutschland. Er hat Geschichte und Politik an der Universität Hamburg studiert.

Verwendete Quellen:

  • HRW.org: Ukraine: Apparent War Crimes in Russia-Controlled Areas. 04.04.2022.
  • Amnesty.org: Ukraine: Apparent war crimes by Russian forces in Bucha must be investigated. 04.04.2022.

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