- In der Ukraine häufen sich Berichte über Vergewaltigungen und sexualisierte Gewalt durch russische Soldaten.
- Dabei ist von einem systematischen Einsatz als Kriegswaffe die Rede.
- Menschenrechtsexpertin Katharina Masoud von "Amnesty International" erklärt im Interview, was die russische Kriegsführung damit bezwecken könnte und wie die Gräueltaten Betroffene auf lange Sicht brandmarken.
Frau Masoud, die ukrainische Aktivistin Kateryna Cherepakha berichtete vor dem UN-Sicherheitsrat von Massenvergewaltigungen in der Ukraine, auch die Menschenrechtsbeauftragte des ukrainischen Parlaments, Ljudmyla Denissowa, schrieb auf sozialen Medien von Vergewaltigungen Minderjähriger durch russische Soldaten. Was wissen wir aktuell darüber?
Katharina Masoud: Der Krieg in der Ukraine erhöht das Risiko geschlechtsspezifischer, einschliesslich sexualisierter Gewalt. Wir haben als "Amnesty International" mit einer Frau gesprochen, die mehrfach von russischen Soldaten mit vorgehaltener Pistole vergewaltigt wurde. Ihr Mann wurde zuvor durch das russische Militär hingerichtet. Eine systematische Erhebung zur unabhängigen Verifizierung konnten wir selbst bislang noch nicht durchführen, es gibt aber Berichte über den Einsatz von Vergewaltigungen und anderen Formen sexualisierter Gewalt in der Ukraine. Sollten sich diese bestätigen, haben wir es mit einem weiteren Kriegsverbrechen zu tun.
Expertin: "Die Tathandlungen sind oft Teil einer Regierungspolitik"
Warum kann man bei Vergewaltigungen von einer Kriegswaffe sprechen?
Vergewaltigungen und andere schwere Formen sexualisierter Gewalt sind international als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt. Wir beobachten in bewaffneten Konflikten immer wieder, dass diese grausamen Taten eine strukturelle Dimension annehmen. Die Taten haben grosse psychische und körperliche Auswirkungen für die Betroffenen, die Schmerzen und Leiden sind so gross, dass wir von Folter sprechen können.
Ab wann spricht man von einem "systematischen" Einsatz?
Wenn Vergewaltigungen im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs stattfinden, handelt es sich um ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der Begriff "systematisch" bezieht sich auf den organisierten Charakter der Gewalttaten, es handelt sich also nicht um zufällige Einzelfälle. Vielmehr sind die Tathandlungen oft Teil einer Regierungspolitik oder einer weit verbreiteten Praxis, die von der Regierung geduldet wird. "Ausgedehnt" bezieht sich hingegen auf den gross angelegten Charakter des Angriffs.
Welche Taktik kann dahinterstecken?
Wir kennen die Strategie des russischen Militärs nicht, aber aus anderen bewaffneten Konflikten wissen wir, dass Vergewaltigungen im Krieg als vorsätzlicher Akt der Demütigung, Diskriminierung und Einschüchterung verstanden werden können. Es handelt sich um eine entmenschlichende Machtdemonstration. Berichte von Überlebenden deuten darauf hin, dass die Betroffenen und die Bevölkerung terrorisiert und erniedrigt werden sollen. Massenvergewaltigungen hat es in der Vergangenheit beispielsweise in Ruanda und im ehemaligen Jugoslawien gegeben.
Bei der Dokumentation von Kriegsverbrechen kommen häufig Video- und Fotoanalysen zum Einsatz. Bei Vergewaltigungen dürfte es dieses Material selten geben. Gibt es weitere Herausforderungen?
Die Menschen, die vergewaltigt wurden, haben häufig grosse Angst, darüber zu sprechen. Zu den körperlichen und psychischen Schäden kommt nämlich oftmals eine gesellschaftliche Stigmatisierung hinzu, die Opfer – meist Frauen und Mädchen – werden geächtet und ausgegrenzt. Teilweise kommt es zu ungewollten Schwangerschaften. Solche Situationen haben zumeist extrem negative Auswirkungen auf ganze Gemeinschaften. Es ist wichtig, bei der Dokumentation sehr behutsam vorzugehen, um die Menschen nicht zu retraumatisieren. Es sollte aber zu einer zeitnahen Beweissicherung kommen, um die Verantwortlichen gerichtlich zur Rechenschaft ziehen zu können. In einer akuten Kriegssituation ist das schwierig.
"Sexualisierte Gewalt ist Teil eines grösseren Systems geschlechtsspezifischer Gewalt"
Gibt es etwas, was die internationale Gemeinschaft tun kann?
Die Weltgemeinschaft sollte mit dem internationalen Strafgerichtshof zusammenarbeiten und seine Ressourcen in finanzieller und personeller Hinsicht nachhaltig aufstocken. Die internationale Gemeinschaft kann sich ausserdem für eine schnelle Umsetzung des UN-Mandats einsetzen: Die Vereinten Nationen haben eine Untersuchungskommission zum russischen Einmarsch in die Ukraine eingerichtet. Bei allen Bestrebungen eine Rechenschaftspflicht für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Ukraine zu erreichen, müssen die geschlechtsspezifischen und intersektionalen Dimensionen dieser Verbrechen umfassend einbezogen werden. Gleichzeitig bleibt natürlich wichtig, den Krieg so schnell wie möglich zu beenden.
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Haben die Staaten auch auf nationaler Ebene eine Handhabe?
Nationale Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden haben bereits begonnen, Informationen von Betroffenen sowie Zeuginnen und Zeugen zu sammeln. Es ist wichtig, dass dabei eine wirksame Koordinierung und ein Informationsaustausch mit anderen involvierten Behörden sichergestellt wird. Sexualisierte Gewalt ist Teil eines grösseren Systems geschlechtsspezifischer Gewalt. Sie beginnt nicht nur mit dem Krieg, sondern ist Teil eines Kontinuums von Gewalt, die es auch zu Friedenszeiten gibt. Das muss man als Gesellschaft auch immer wieder thematisieren.
Berichte über sexualisierte oder häusliche Gewalt
Verwendete Quellen:
- Tagesschau.de: Vergewaltigungen als Waffe. 12.04.2022.
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