Offenbar aus Rache soll ein ukrainischer Journalist ins Militär eingezogen werden; ein Medienportal wird monatelang überwacht; dubiose Gestalten schlagen die Tür eines Reporters ein. Wer in der Ukraine zu Korruption recherchiert, lebt gefährlich. Vor allem der Geheimdienst, sagt ein Experte von "Reporter ohne Grenzen", überschreite regelmässig seine Kompetenzen.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Joana Rettig sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Platz 79 – den belegt die Ukraine inzwischen auf der Rangliste der Pressefreiheit, die die Organisation "Reporter ohne Grenzen" (RSF) jährlich veröffentlicht. Damit ist das vom Krieg gezeichnete Land innerhalb von zwei Jahren um 27 Listenplätze nach oben geklettert. Und dennoch gibt es immer wieder Fälle, in denen Journalistinnen und Journalisten sowohl von Wirtschaftsmogulen als auch von staatlichen Akteuren bedrängt, bedroht und in ihrer Arbeit behindert werden.

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Der jüngste Fall: Ein ukrainischer Enthüllungsjournalist des Onlineportals "Slidstvo.info" sollte offenbar als Vergeltungsmassnahme für seine Arbeit ins Militär eingezogen werden. Das berichtete der betroffene Journalist Jewhenij Shulhat vergangene Woche und konnte auch eigene Videoaufzeichnungen dazu als Beleg anbringen.

Einschüchterung aus "Rache" wegen Korruptionsrecherchen

Auch Überwachungsaufnahmen eines Einkaufszentrums, in dem sich der Vorgang abspielte, bestätigen die Schilderungen des Journalisten. Shulhat wurde demnach von Männern in Uniform angesprochen, die sich als Vertreter eines Einberufungsbüros zu erkennen gaben und versuchten, ihm einen Einberufungsbescheid zu überreichen. Sie wurden zuvor – auch das zeigen Überwachungsaufnahmen, von einem Mann begleitet, der sie offenbar zu dem Journalisten führte. Nach Angaben des Mediums "Slidstvo.info" war dies wohl ein Mitarbeiter des ukrainischen Sicherheitsdienstes (SBU).

Slidstvo.Info bezeichnete den Vorfall als "Rache" für die jüngsten Recherchen von Shulhat, die sich um Korruptionsvorwürfe gegen den Leiter der SBU-Cyber-Security-Abteilung, Illia Vitiuk, drehten.

RSF verurteilt ein solches Vorgehen scharf. Auch im Gespräch mit unserer Redaktion erklärt RSF-Referent Birger Schütz: "Der versuchte Einzug des Journalisten ins Militär war der Versuch des SBU, einen Kritiker aus dem Verkehr zu ziehen - und ist vermutlich deshalb nicht durchgegangen, weil der Journalist in dem Moment geistesgegenwärtig sein Handy gezückt hat." Dem "Kyiv Independent" teilte der SBU mit, man prüfe derzeit die von Slidstvo.info veröffentlichten Informationen. Zudem arbeiteten auch das Verteidigungsministerium und der Generalstab der ukrainischen Streitkräfte an dem Fall.

Dass die angekündigten Konsequenzen wirklich wirksam sind, bezweifelt RSF-Experte Schütz. "Ich halte das eher für eine Geste für die Öffentlichkeit – auch an die internationale Öffentlichkeit." In diesem Zusammenhang erwähnt der Osteuropa-Experte weitere Fälle:

"Im Januar gab es bereits einen dreifachen Medien-Skandal, wovon die grösste Geschichte war, dass der SBU gegen 'bihus.info' vorgegangen ist, Hotelzimmer abgehört und Mitarbeitende überwacht hatte." Bis zu 30 Geheimdienstler sollen an diesem Skandal beteiligt gewesen sein, und Schütz sagt: "Damals gab es im Prinzip eine ähnliche Reaktion wie jetzt: Ein paar Beteiligte wurden entlassen, aber strukturell hat sich bisher nichts getan."

Grosses Ziel der ukrainischen Regierung: Korruptionsbekämpfung

Auch damals habe der Geheimdienst Ermittlungen aufgenommen, genauso wie die Polizei und der Generalstaatsanwalt. "Selenskyj äusserte sich einen Tag nach der Veröffentlichung des Skandals und meinte, Druck auf Journalisten auszuüben, sei nicht akzeptabel. Der SBU-Chef und der Generalstaatsanwalt würden bezüglich der Ermittlungen persönlich an ihn berichten - doch passiert ist danach nicht viel."

Interessant dabei ist: Die meisten Journalistinnen und Journalisten, die in jüngster Vergangenheit unter Druck gesetzt wurden, ermittelten vor allem im Bereich Korruption. Dabei hatte sich die Regierung um Wolodymyr Selenskyj auf die Fahne geschrieben, besonders hart gegen Korruptionsfälle vorzugehen, um dieser das Handwerk zu legen. Denn sie gilt als eine der grössten Hürden, die die Ukraine überwinden muss, um irgendwann Teil der Europäischen Union werden zu können.

Kämpft man nun also gegen Korruption oder gegen deren Aufdeckung? Schliesslich gibt der ukrainische Machtapparat vor, dieses Thema, neben der Verteidigung gegen Russland, weit oben auf der Prioritätenliste zu führen.

"Man muss verstehen, dass in so einem grossen Land der Machtapparat nicht einheitlich besetzt ist", erklärt Experte Schütz dazu. "Wir können oft nur vermuten, wer dahintersteckt." Ein Beispiel sei ein weiterer Fall im Januar. "Ein Tag nachdem Selenskyj sein Statement zu dem vorherigen Skandal abgegeben hatte, fand eine Journalistin in ihrem Auto in Odessa eine Abhöreinrichtung", berichtet Schütz. Auch sie habe zu Korruption und Machtmissbrauch im Zusammenhang mit den Getreide-Korridoren recherchiert. "Dann stellt sich natürlich die Frage, wer steht dahinter? Kommt die Anweisung von ganz von oben? Ist es der Geheimdienst oder sind das örtliche Seilschaften?"

Selenskyj hat schwieriges Verhältnis zu Medien

Hinzu komme, dass selbst Selenskyj grundsätzlich ein schwieriges Verhältnis zur ukrainischen Presse habe. Im dritten Fall aus dem Januar gibt es Schütz zufolge Hinweise darauf, dass Personen aus dem Präsidentenumfeld damit in Zusammenhang gebracht werden könnten. Dabei geht es um den Journalisten Jurij Nikolow.

Dieser beschrieb in einem Facebook-Post, wie dubiose Gestalten plötzlich vor seiner Tür standen, diese sogar eintraten und ihn dazu zwingen wollten, dem Militär zu dienen. Nikolow sei zu dem Zeitpunkt nicht zu Hause gewesen, seine Mutter allerdings schon. Kurz nach dem Vorfall tauchten Bilder von Nikolows Haustür auf einem Telegramkanal auf. Darauf waren Zettel angebracht mit den Worten: "Provokateur", "Verräter" und (Wehrdienst-) "Verweigerer".

Hinter dem Netz von Telegramkanälen, die die Kampagne gegen den Korruptions-Enthüllungsjournalisten befeuerten, stehen laut RSF-Experte Schütz dubiose PR-Spezialisten, die dem PR-Team Selenskyjs nahestehen sollen. "Selenskyj ist bekannt dafür, dass er sich nicht gerne den Fragen ukrainischer Medien stellt, ganz im Gegensatz zu westlichen Medien - da nimmt er sich sehr viel Zeit. Er pflegt eine instrumentelle Beziehung zu den Medien."

Wie lässt sich also die aktuelle Situation der Pressefreiheit in dem Land beschreiben? Noch vor dem Krieg stand die Ukraine auf Platz 106. Mittlerweile steht sie auf Platz 79, "was vor allem am neuen Mediengesetz von 2022 liegt", meint Schütz. Im Zusammenhang mit der Verkündung der EU-Beitrittskandidatur hatte die EU-Kommission der Ukraine diese Reform mit Nachdruck nahegelegt. Hintergrund ist die Tatsache, dass die ukrainische Medienlandschaft in grossen Teilen von Oligarchen bestimmt wird. Laut Schütz bietet dieses Mediengesetz zudem ein modernes Regelwerk zur Regulierung von Medien.

Pressefreiheit vor allem durch Krieg beeinträchtigt

Doch noch immer können Journalistinnen und Journalisten nicht ohne Gefahren frei recherchieren, wie die kürzlich öffentlich gewordenen Fälle deutlich zeigen. An fehlenden Mechanismen könne dies nicht liegen, meint der Experte. "Letztendlich gibt es diese Mechanismen bereits durch das neue Mediengesetz. Die Frage ist jetzt: Wird es umgesetzt?"

Druck könne dabei vor allem die EU machen, "aber ob das so geschieht, bleibt fraglich", sagt Schütz. Doch auch die ukrainische Zivilgesellschaft müsse weiterhin laut bleiben, genauso wie verschiedene Journalisten-Verbände. Grundsätzlich, sagt Schütz jedoch, werde die Pressefreiheit vor allem durch russische Angriff eingeschränkt. Bereits elf Journalisten sind im Zusammenhang mit dem Krieg ums Leben gekommen.

Daneben seien in der Ukraine allerdings Konsequenzen notwendig, die einen ernstzunehmenden Effekt hätten. Vor allem die Rolle des Geheimdienstes SBU müsse laut Schütz in den Fokus genommen werden. "Hier gab es in der Vergangenheit immer wieder einzelne Fälle. Im März vergangenen Jahres wurden etwa ukrainische Journalisten, die für internationale Medien arbeiten, zu Verhören vorgeladen und zu ihren Kontakten in die besetzten Gebiete und auch nach Russland befragt."

Der Geheimdienst habe sie sogar gebeten, sich Tests mit Lügendetektoren zu unterziehen. Bei einer Weigerung drohte der Entzug der Akkreditierung. "Der SBU überschreitet hier ganz klar seine Kompetenzen", sagt Schütz, "Sein Mandat ist die Gewährleistung der nationalen Sicherheit. Doch wenn Journalisten zu Luxusimmobilien von SBU-Führungspersonen recherchieren, und der Geheimdienst dagegen vorgeht, hat das Einschreiten nichts mehr mit innerer Sicherheit zu tun."

Über den Gesprächspartner

  • Birger Schütz ist Pressereferent bei der Organisation „Reporter ohne Grenzen“. Hier ist er vor allem Experte für die postsowjetischen Länder und beobachtet dort die Entwicklungen bezüglich der Pressefreiheit.

Quellen

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