- Ukrainische Truppen haben nach eigenen Angaben die Stadt Irpin bei Kiew zurückerobert, in weiteren Teilen des Landes werden russische Einheiten zurückgedrängt und Geländegewinne der ukrainischen Armee vermeldet.
- Jetzt kündigt Russland sogar an, seine "militärischen Aktivitäten" bei Kiew und Tschernihiw deutlich zu reduzieren.
- Könnte das für Unmöglich gehaltene doch noch eintreten – ein Sieg der ukrainischen Armee über die russischen Streitkräfte? Militärexperte Gustav Gressel gibt eine Einschätzung.
Herr Gressel, die Ukraine meldet die Rückeroberung der Stadt Irpin bei Kiew. Seit einigen Tagen meldet der ukrainische Generalstab, dass es in den Vororten von Kiew gelinge, sogar einige Geländegewinne zu machen. Wie schätzen Sie die Lage ein?
Gustav Gressel: Die Ukrainer haben in der Tat eine Reihe von Gegenangriffen gestartet. Irpin ist befreit worden, Hostomel im Westen Kiews ist noch umkämpft. Es gibt grössere Geländegewinne im Osten von Kiew, die Stadt Sumy ist ebenfalls nicht mehr belagert. Die Russen haben gestern versucht hier einen Gegenangriff zu starten und die Ukrainer wieder zurückzudrängen. Das hat aber nicht funktioniert. Die Ukrainer können die Gebiete halten, die sie zurückgewonnen haben. Auch um Charkiw haben Gegenangriffe die russischen Truppen vom Stadtrand weggedrängt, sodass die Stadt selbst nicht mehr mit Artillerie beschossen werden kann. Das sind grosse Erfolge für die Ukrainer.
Jetzt kommt aus dem Russischen Generalstab sogar die Meldung, dass man sich aus dem Kiewer Oblast, genauer Kiew und Tschernihiw, zurückziehen will. Wenn die Russen das machen, dann ist das tatsächlich die Aufgabe des Versuches Kiew zu nehmen.
Wie konnte das der ukrainischen Armee plötzlich gelingen?
Die russischen Kräfte sind überdehnt, man hat grosse Verluste hinnehmen müssen. Die russische Front ist ausgedünnt: Es ist realistisch, ungefähr mit 10.000 Gefallenen auf russischer Seite zu rechnen und mit 20.000 bis 30.000 Verwundeten. Bis zu 40.000 Mann können auf russischer Seite also nicht an Kampfhandlungen teilnehmen. Das ist ein erheblicher Brocken der ursprünglichen eingesetzten Verbände. Die Russen mussten einige Einheiten nach Belarus, Russland oder auf die Krim zurücknehmen, um sie wieder zu formieren oder mit anderen angeschlagenen Einheiten zusammenzulegen.
Befinden sich die ukrainischen Truppen denn tatsächlich in der Offensive?
Wenn man sich anschaut, wo die Ukrainer jetzt angreifen, dann handelt es sich um die gefährlichsten Stellungen, von denen man erwartet, dass die Russen von dort ihre Offensive fortsetzen. Überall dort versucht die ukrainische Armee jetzt so viel wie möglich an Boden wieder gutzumachen und stark verteidigbare Stellungen zu etablieren, zum Beispiel hinter Flussläufen. Es handelt sich zurzeit um taktische Gegenangriffe.
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Ist das der Wendepunkt des Krieges?
Nein, das glaube ich nicht. Dafür müssen wir vermutlich erst Mitte oder Ende April abwarten, ob da noch etwas von russischer Seite kommt. Denn Russland versucht neue Kräfte aufzustellen und zuzuführen. Der Einrückungstermin April 2021 liegt bald ein Jahr zurück: Diejenigen, die nun ein Jahr in der Armee gedient haben und fertig ausgebildet sind, können russische Vertragssoldaten werden. Dabei sprechen wir über 134.000 Mann – hier hat Russland die Chance neue Kräfte aufzustellen und die Offensive wieder aufzunehmen.
Am Freitag hat Russland angekündigt, dass es sich künftig auf die Befreiung des Donbass konzentrieren will. Was steckt dahinter?
Aktuell greift die russische Armee hauptsächlich im Osten um Mariupol an. Grössere Offensiven hat man auch im Donbass selbst probiert, ebenso Angriffe auf den Donbass von der Region um Charkiw aus. Trotzdem versuchen die Russen die Stellungen im Westen zu halten, soweit sie es können. Es gab auch Gegenangriffe im Raum Kiew und Lwiw im Westen wurde angegriffen. Ich wäre deshalb skeptisch, ob die Konzentration auf die Befreiung des Donbass schon Teil der Politik Russlands ist oder ob damit einfach die operative Lage der russischen Militäroperation in den nächsten Wochen beschrieben wird.
Putin zieht sich also nicht aus dem Rest des Landes zurück?
Das glaube ich nicht. Schliesslich ist Putin in den Verhandlungen hartnäckiger als sein Team um ihn herum. Es gibt schon Vorschläge sich auf einen Frieden oder Waffenstillstand einzulassen, aber Putin ist davon am wenigsten überzeugt. Seine Ziele hat er zum jetzigen Zeitpunkt kaum aufgegeben. Solange er die Möglichkeit hat, Mitte April mit neuen Kräften noch einmal anzugreifen, wird er das versuchen.
Könnte die Ukraine denn am Ende die militärische Auseinandersetzung mit Russland dennoch gewinnen?
Dabei stellt sich die Frage, wie man Sieg definiert. Die Ukraine kämpft ums Überleben, Putin hat ihr die Staatlichkeit abgesprochen. Alles, was also keine Niederlage ist, ist ein ukrainischer Sieg. Für Russland ist gleichzeitig alles, was nicht ein totaler Sieg ist, schon eine Niederlage.
Die komplette Einverleibung der Ukraine bleibt also ein Szenario?
Russland wird kaum die Kraft aufbringen, die Ukraine als Ganzes einzunehmen. Selbst, wenn Russland 134.000 Mann ins Gefecht führt – allein Kiew zu nehmen, wäre eine Mammutaufgabe. Das Problem ist aber: Wenn man sich nur auf einen brüchigen Waffenstillstand einigt, steht noch viel in den Sternen: Wo würde die russische Besatzung stehen bleiben? Könnten die Ukrainer noch mehr Gelände zurückzugewinnen? Würde Russland aus der Ukraine einen gigantischen Donbass machen, bei der eine Front quer durch das Land aufgerissen und zur neuen Grenze gemacht wird? Herrscht dann dauerhaft ein schwelender Konflikt in der Ukraine? Könnte Russland so versuchen, die Ukraine langfristig zu erdrücken, weil sie als selbstständig lebensfähiger Staat beschnitten würde?
Wie sollte sich der Westen dabei verhalten?
Das beschriebene Szenario gilt es aus westlicher Sicht zu verhindern. Wir Europäer haben kein Interesse an einer gespaltenen Ukraine. Es wäre gut, Russland durch verstärkte Sanktionen Anreize zu geben, sich aus dem Krieg wirklich zurückzuziehen und ihn mit einem Frieden und nicht Waffenstillstand zu beenden. Russland müsste dafür seine Maximalforderungen allerdings aufweichen. Die Ukraine hat bereits Kompromisse angeboten.
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