Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen die Ukraine aufgrund des Kriegsrechts nicht verlassen. Manche haben dennoch den Dienst an der Waffe verweigert. Sie erzählen von den Gründen – und wie schrecklich der Krieg ist.

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"Ich habe gesehen, wie jemandem in den Bauch geschossen wurde. Er hatte wahnsinnige Schmerzen. Dann habe ich einen abgetrennten Kopf gesehen." Iwan Ischtschenko, der sich bei der ukrainischen Armee freiwillig für den Kampf gegen Russland gemeldet hatte, konnte solche Grausamkeiten irgendwann nicht mehr ertragen. "Ich wollte nichts mehr sehen." Nach einem Monat an der Front desertierte der Ukrainer – bereit, eine Haftstrafe in Kauf zu nehmen oder Tausende Euro für seine Flucht aus seiner Heimat zu zahlen. Nun lebt er in Deutschland.

Als Russland sein Land im Februar vergangenen Jahres überfiel, wollte der 30-Jährige unbedingt für eine freie Ukraine kämpfen. "Bevor ich in den Krieg ging, hielt ich mich für einen Superhelden", erinnert sich Ischtschenko. "Aber jedes Heldentum endet, wenn man den Krieg mit eigenen Augen sieht, und merkt, dass man nicht hierher gehört."

Ischtschenko zahlte 5.000 Dollar, um aus der Ukraine zu flüchten. Ein Auto mit einem Nummernschild der Regierung brachte ihn in einen Wald nahe der ungarischen Grenze, er kletterte durch ein Loch im Zaun und rannte. "Das war der Moment, in dem ich am meisten Angst hatte. Als ich die Ukraine verlassen habe und zu Fuss geflohen bin", erzählt der Deserteur.

Ukrainischen Deserteuren drohen langjährige Haftstrafen

Wie Ischtschenko sind seit Beginn des russischen Angriffs zahlreiche Ukrainer vor dem Wehrdienst geflohen oder aus der Armee desertiert. Ihnen drohen in ihrer Heimat bis zu fünf beziehungsweise bis zu zwölf Jahre Haft. Offiziell dürfen ukrainische Männer zwischen 18 und 60 Jahren das Land nicht verlassen. Ischtschenko hält sich aktuell in Dresden auf.

Wie viele Männer illegal das Land verlassen haben, dazu wollten die ukrainischen Behörden auf Anfrage der Nachrichtenagentur AFP keine Schätzung abgeben. An den Grenzen haben die Behörden seit Februar 2022 nach eigenen Angaben 13.600 Menschen verhaftet, die ausserhalb der regulären Übergänge das Land verlassen wollten. Weitere 6.100 Menschen wurden mit falschen Papieren erwischt, die meisten von ihnen Männer im kampffähigen Alter, wie der Sprecher der Grenzpolizei, Andrij Demtschenko, der Nachrichtenagentur AFP sagte.

Bogdan Marynenko überquerte zwei Tage vor seinem achtzehnten Geburtstag regulär die Grenze nach Polen. "Wenn ich zurückkehre, werden sie mich einfach irgendwohin schicken, wo es gerade brennt", sagt er mit Blick auf die Front. "Ich kann nichts, sie werden mich nicht vorbereiten und mich einfach umbringen."

"Hätte ich keine Familie, wäre ich nicht geflohen."

Bogdan Marynenko, 19 Jahre

In Polen arbeitet Marynenko auf Baustellen, mit dem Geld unterstützt er seine Familie. Sein Vater ist in der Ukraine an der Front. "Wenn ihm etwas passiert, haben meine Mutter und meine Schwestern nur noch mich", sagt der inzwischen 19-Jährige. "Hätte ich keine Familie, wäre ich nicht geflohen."

Viele Geflüchtete haben Schuldgefühle

Zahlreiche Ukrainer bestechen die Behörden für eine Fahrt an die Grenze oder für ein gefälschtes medizinischen Gutachten, um dem Krieg zu entgehen – so wie Iwan, der für ein solches Attest 5.000 Dollar bezahlte und der seinen Nachnamen nicht nennen will. "Jeder kennt jemanden, der ihm helfen kann", sagt der 24-Jährige.

Die ukrainische Regierung geht derzeit hart gegen die Korruption in den Behörden vor. Alle leitenden Verantwortlichen für die Wehrpflicht wurden kürzlich entlassen und mehr als 200 Rekrutierungszentren durchsucht. Die Ermittler enttarnten nach eigenen Angaben "umfassende korrupte Strukturen in fast allen Regionen des Landes". Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach von "Verrat".

Viele der Geflüchteten haben Schuldgefühle. Der 38-jährige Jewgen Kurutsch, der als Taxifahrer in Warschau arbeitet, gesteht: "Ich weiss, dass ich mein Land verteidigen müsste, aber ich muss mich auch um meine Familie kümmern." Ein Mann in seinem Alter fällt in Polen auf zwischen den geflüchteten Frauen und Kindern aus der Ukraine. Manche machen ihm Vorwürfe: "Man hat mir gesagt: 'Unsere Männer sind an der Front, sie kämpfen, und ihr, die Feiglinge, ihr bleibt hier. Ihr versteckt euch hinter ihrem Rücken, hinter dem Rücken unserer Männer'."

Der Reserveoffizier lebt nun mit seiner Frau und den Kindern Kirill und Anastasia, fünf und acht Jahre alt, in Warschau. "Wenn ich sie sehe, dann gibt mir das Kraft", sagt Kurutsch. "Es tröstet mich zu wissen, dass ich das hier nicht umsonst mache." (Barbara Wojazer und Hélène de Lacoste, AFP/tas)

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