Eddy Scott half in der Ukraine als Freiwilliger bei Evakuierungen – bis er selbst schwer verletzt wurde. Jetzt steht er vor neuen Herausforderungen: Reha, Prothesen und ein Leben nach der Amputation. Wie geht die Ukraine mit Verwundeten um, und welche Rolle spielt internationale Hilfe?

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Joana Rettig sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Er erinnert sich an diesen einen Moment: Nach dem Feuerball und dem Schrei lag er im Kofferraum, das Auto stolperte. Die Schlaglöcher. Er spürte das Gewicht seines linken Arms auf seiner Brust, doch den Arm selbst nicht mehr. Es ist das Gefühl, an das er sich so genau erinnert. Und dieses Nicht-Gefühl. Dieses Gewicht. Aber eines, das ins Leere wiegt. Unkontrollierbar und unwirklich.

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Er hielt sein linkes Handgelenk mit der rechten Hand fest, immer wieder fiel der Arm von seiner Brust herunter. Und er erinnert sich an den Mann, der über ihm kniete und betete, ihm die Brille abnahm, das Blut wegwischte. Wie er versuchte, ihm die Brille wieder aufzusetzen, aber mit dem Bügel das Auge traf.

Der Mann, erinnert er sich, roch nach Alkohol, war blutverschmiert. Bis die Sanitäter kamen, blieb der Mann bei ihm. Und er dachte nur: Ich könnte auch einfach gehen. Die Augen schliessen, einschlafen.

Eddy Scotts Stimme hallt blechern aus den Lautsprechern eines Telefons, während er von seinen Erinnerungen spricht. Er ist abgemagert, doch die Augen glitzern. Er sitzt in einem grau-blauen Raum, trägt ein graues Sweatshirt, selbst sein blondes Haar wirkt durch den Handybildschirm grau. Hinter ihm öffnet sich hin und wieder eine Tür, ein Arzt kommt herein, holt etwas, geht wieder.

Eddy Scott wenige Tage nach dem Drohnenangriff im Krankenhaus in Dnipro. © madison tuff

Hier in einem Kiewer Krankenhaus werden seine Wunden behandelt. Eddy Scott wurde Ende Januar in der Frontstadt Pokrowsk durch eine russische FPV-Drohne lebensgefährlich verletzt. Sein linkes Bein und sein linker Arm mussten amputiert werden.

Vom Seemann zum humanitären Helfer

Scott ist 28 Jahre alt. Er stammt aus Dorset, Grossbritannien. Nach seinem Schulabschluss lernte er das Segeln. Überquerte als Crewmitglied verschiedener Yachten von Superreichen neunmal den Atlantik. Doch als Russland am 24. Februar 2022 die Ukraine überfiel, beschloss er, sich dort zu engagieren.

Eddy Scott im Januar 2024 in Charkiw. © Joana Rettig

Fast seit Beginn des Krieges lebt Eddy Scott nun in der Ukraine, hat dort Aufenthaltsstatus. Und seither hatte er sich der humanitären Hilfe verschrieben. Er lieferte Wasser in Städte, die von der Infrastruktur abgeschnitten waren. Brachte medizinische Hilfsgüter in Dörfer, in denen es keine Ärzte mehr gab. Evakuierte Menschen aus Frontgebieten, die selbst nicht fahren konnten. Fast drei Jahre lang riskierte Eddy Scott sein Leben, um anderen Menschen zu helfen.

Jetzt wartet eine Freundin vor der Krankenhaustür, um ihm das Wasser aufzufüllen. Die ukrainischen Notfallsanitäter, die Ärztinnen und Ärzte, die Krankenpfleger, seine Freundinnen und Freunde. Scott ist auf sie alle angewiesen, ebenso auf Spenden, die er bekommt.

Das Land verlassen will er nicht, die Ukraine, sagt er, ist sein neues Zuhause. Hier will er behandelt werden, in Reha gehen. Offenbar erhält er bald einen Status, der ihm ähnliche Rechte einräumt wie einem Veteranen – ein Zeichen dafür, dass das Land auch diejenigen anerkennt, die ohne Waffe geholfen haben. Dank seines Aufenthaltsvisums gilt diese Regelung auch für ihn.

Rehabilitationszentren, die sich auf modernste Prothetik spezialisiert haben, bieten ihm Behandlung an. Hochrangige Vertreter der Regierung setzen sich dafür ein, dass auch Menschen wie er die bestmögliche Versorgung erhalten. "Es geht mir gut", wird er in diesem Gespräch mehrfach wiederholen. "Es geht mir wirklich gut."

Dieser Tag, es war der 31. Januar. Eddy Scott war mit der ukrainischen Hilfsorganisation Base UA unterwegs. Keine Evakuierungsanfrage stand auf dem Plan. Der Fokus lag auf der Wartung von Generatoren, die der Mobilfunkanbieter Vodafone in Pokrowsk betreibt, um dort weiterhin Handy- und Internetnetz zu ermöglichen.

Eddy Scott hat sich den ukrainischen Dreizack auf die rechte Hand tätowieren lassen. © Joana Rettig

Auf dem Weg dorthin traf das Team an einer Bushaltestelle drei Menschen mit einem Hund – ihr Haus lag an der direkten Frontlinie und war am Morgen zerstört worden, sie warteten auf Evakuierung. Das Team betankte die Generatoren, wollte gerade die drei Menschen einsammeln, als sie auf ein weiteres Paar stiessen, das fliehen wollte. Zunächst brachten sie die erste Gruppe in Sicherheit und übergaben sie an eine weitere Hilfsorganisation. Dann kamen sie wieder.

Der zeitliche Ablauf ist Scott wichtig. Wären sie nicht zu jener Sekunde an jenem Ort gewesen – vielleicht wäre alles ganz anders gekommen.

Eddy Scott im Januar 2024 in der nähe der Frontstadt Kupjansk. © Joana Rettig

30 Sekunden. Ein Schlag. Der Feuerball

Sie gingen mit dem Pärchen zu deren Zuhause. Eher eine Garage als ein Haus, wie Scott sagt. Die Menschen hätten sich Zeit gelassen, wie es so oft der Fall ist. Die Gefahr, die vom Beschuss ausgeht, wird nicht mehr so ernst genommen, wenn man sie nur lange genug überlebt hat. Der Mann habe getrunken, die Frau ihn angeschnauzt. Aber auf eine lustige Art, sagt Scott.

Sie packten die Habseligkeiten zusammen, beluden das Auto. So erinnert sich Eddy Scott an den Verlauf. Als sie auf dem Weg nach draussen waren, überquerten sie die Bahngleise. Recht weit im Westen liegt dieser Übergang. Brücken kann man in Pokrowsk lange nicht mehr überqueren, also haben die Behörden einen Feldweg über die Gleise gezogen.

Kurz nachdem Eddy Scott die Gleise in Pokrowsk überquerte, wurde er von einer Drohne schwer verletzt.

Kurz nachdem sie die Gleise überquert hatten, hätten sie dort Menschen auf Fahrrädern gesehen. Sie hielten an, um ihnen Evakuierungsflyer zu geben. Da habe er die Drohne kommen hören, sagt Eddy Scott. Er schloss die Fahrertür, trat aufs Gas. 30 Sekunden. Ein Schlag. Der Feuerball. Der Drang, weiterzufahren. Die Erkenntnis, dass sein Arm nicht das tut, was seine Schulter ihm zu befehlen versucht. Der Blick auf sein Bein. Und dann der Schrei.

Wochen später hängt der linke Ärmel des grauen Sweatshirts leer an Eddy Scotts Schulter herab. Die Ärzte haben ihm den Arm etwa zehn Zentimeter vom Schultergelenk abwärts entfernt. Der Stumpf ist also sehr kurz, aber gerade noch lang genug für eine Prothese. Welche er bekommt, das ist noch nicht ganz klar. Gerade weil der Stumpf so kurz ist, kommen nicht viele infrage.

Der Arm, sagt er, sei weitaus komplizierter als das Bein. Scott lernt derzeit das Fachvokabular. Osseointegration, transhumerale Amputation, Endostales Implantat. "Ich werde ein verdammter Cyborg sein", sagt er. "Das ist so cool." Doch Prothesen kosten Geld.

Gesundheitssystem hat sich angepasst

Für Freiwillige in Kriegsgebieten gibt es meist keine Versicherung. Kriegsverletzungen werden nicht abgedeckt, dafür ist das Risiko zu gross. Doch in der Ukraine hat sich schnell ein System entwickelt, das auch ausländische Verletzte mit einbezieht. Zwar gibt es offiziell kein Gesetz – ausser der Tatsache, dass lebensgefährliche Verletzungen grundsätzlich kostenlos behandelt werden, unabhängig von der Herkunft oder des Passes –, dennoch müssen sich Menschen vor Ort zunächst nicht sorgen. Nach drei Jahren Krieg hat sich die Ukraine auch in ihrem Gesundheitssystem neu erfinden müssen.

Januar 2024: Eddy Scott in einem Bunker in Kiwschariwka, bei Kupjansk. © Joana Rettig

Als der Krieg begann, gab es kaum spezialisierte Einrichtungen für Kriegsversehrte. Wer Amputationen benötigte, war oft auf Behandlung im Ausland angewiesen. Drei Jahre später hat sich viel getan: Es gibt mehr spezialisierte Kliniken, internationale Unterstützung fliesst, doch der Bedarf bleibt hoch. Viele Verwundete müssen noch immer monatelang auf ihre Versorgung warten.

Internationale Hilfe bekommt auch Eddy Scott. Die US-amerikanische Stiftung R.T. Weatherman finanziert derzeit seine Behandlung. Nach seiner Zeit im Krankenhaus wird Scott in eine Reha-Klinik gehen: das "Superhumans"-Zentrum in Lwiw. Dort gibt es spezialisierte Behandlung für Amputierte, individuell angepasste Prothesen und psychologische Betreuung.

Die Klinik wird durch Spenden finanziert, im Aufsichtsrat sitzen die Ehefrau des Präsidenten, Olena Selenska, und Gesundheitsminister Wiktor Ljaschko. Eine Basis-Prothese, zumindest für das Bein, soll ihm hier wohl auch kostenfrei zur Verfügung gestellt werden. Doch nicht alle Verwundeten haben Zugang zu dieser Art von Behandlung. Viele Soldaten und Zivilisten werden in überlasteten öffentlichen Krankenhäusern behandelt, oft mit langen Wartezeiten auf Prothesen oder Reha.

Eddy Scott im September 2024 in der Nähe der Frontstadt Siwersk: Hier lieferte er wöchentlich Wasser an die Menschen, die noch immer dort leben. © Joana Rettig

Er bekomme wahrscheinlich bessere Behandlung als viele Ukrainer, sagt Scott. Es fühle sich falsch an, sagt er. Aber er sieht es als Chance. Reha als Investition – nicht nur in seine eigene Zukunft, sondern auch in seine Möglichkeit, irgendwann wieder etwas zurückzugeben.

Ein letztes Mal Atlantik

Scott ist sich bewusst, dass er in einer privilegierten Situation ist. Seine Behandlung wird von internationalen Stiftungen unterstützt, er erhält Zugang zu hochwertigen Prothesen und eine spezialisierte Reha. Viele ukrainische Verwundete haben diese Möglichkeiten nicht. Sein Ziel ist es, wieder unabhängig zu werden und aktiv zu bleiben.

Ob das bedeutet, irgendwann wieder vor Ort zu helfen oder auf andere Weise einen Beitrag zu leisten, wird sich zeigen. Für den Moment konzentriert er sich darauf, die Reha anzugehen, wieder zunehmen. Innerhalb von 23 Tagen hat Scott fast 20 Kilo Gewicht verloren.

Und dann? Will er versuchen, eine besondere Beinprothese deutscher Herstellung zu bekommen. Gerade schielt er auf ein Modell der Firma Ottobock aus Duderstadt in Niedersachsen – die Genium X3.

Und er blickt auch in eine Zukunft auf See. Eines seiner grossen Ziele ist eine weitere Atlantiküberquerung. Nur noch ein einziges Mal. Neun hat er schon – es müssen zehn sein. "Und wenn ich mich als Pirat verkaufen kann, übernimmt vielleicht auch eine Firma meine Prothese."

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