Wagner-Chef Prigoschin soll Kiew angeboten haben, Standorte russischer Truppen zu verraten. Im Gegenzug habe er den Abzug ukrainischer Soldaten aus Bachmut gefordert. Welches Ziel könnte der Wagner-Chef damit verfolgen? Oder steckt etwas ganz anderes hinter den Berichten?

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marie Illner sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Ex-Häftlinge als Soldaten, blutige Kämpfe in Bachmut, scharfe Kritik an der militärischen Führung im Kreml: Fast wöchentlich macht Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin im Ukraine-Krieg Schlagzeilen. Jüngst stand er aufgrund eines schwerwiegenden Vorwurfs in der Öffentlichkeit: Laut einem US-Bericht soll Prigoschin dem ukrainischen Geheimdienst HUR angeboten haben, Stellungen der russischen Armee zu verraten. Im Gegenzug habe er den Abzug ukrainischer Soldaten aus Bachmut gefordert.

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Dort war die Söldnertruppe von Prigoschin, die im Ukraine-Krieg an der Seite regulärer russischer Truppen kämpft, zuletzt besonders aktiv und massgeblich an der inzwischen bestätigten Eroberung der ostukrainischen Stadt beteiligt. Prigoschin ist erpicht darauf, dass die Gebietsgewinne seiner Privatarmee zugeschrieben werden – schon seit langem wollte er hier unter Beweis stellen, dass er erreichen kann, woran die reguläre russische Armee scheitert. Nun kündigte der Wagner-Chef den Abzug seiner Truppen an.

Geheimes Treffen in Afrika?

Wie es in dem Bericht der "Washington Post" heisst, soll die Ukraine das Angebot abgelehnt haben. Prigoschin gelte in den Augen der Ukrainer nicht als vertrauenswürdig. Den Vorschlag soll der Wagner-Chef Geheimdienstkontakten bereits im Januar bei einem Treffen in einem afrikanischen Land unterbreitet haben. Prigoschin, der als Vertrauter von Putin gilt, bestreitet die Vorwürfe und spricht von einer "Kampagne" voller Falschinformationen.

Würden sich die Vorwürfe erhärten, könnte Putin dies als Verrat werten. Unabhängig überprüft wurden sie bislang nicht, auch vom ukrainischen Präsident Selenskyj gab es weder eine Bestätigung noch ein Dementi. Die Informationen stammen aus den US-Geheimberichten, die vor wenigen Monaten über Discord-Server geleakt wurden. Aus den US-Dokumenten geht nicht hervor, welche Stellungen Prigoschin genau verraten wollte.

Mögliches Kalkül hinter dem Angebot

Welches Ziel könnte der Wagner-Chef damit verfolgen, das Leben russischer Soldaten als Verhandlungsmasse einzusetzen? Politikwissenschaftler Fabian Burkhardt hält es für fraglich, dass die Berichte wirklich zutreffen. "Wir wissen zu wenig, was dahintersteckt. Es gibt kaum belastbare Informationen", erinnert er. Sollte Prigoschin wirklich die Standorte russischer Stellungen angeboten haben, sei das Staatsverrat.

"Das wäre ein viel radikalerer Schritt in seiner Fehde gegen das russische Verteidigungsministerium", so Burkhardt. Um seine eigene Position zu stärken, würde die russische Armee geschwächt. Das Kalkül also: Je schlechter der Krieg an anderen Fronten läuft, desto grösser erscheinen Erfolge in Bachmut.

Putin müsste handeln

"Einen solchen Verrat könnte Putin nicht so einfach stehen lassen, sondern müsste es bestrafen. Es wäre ein Zeichen von Schwäche, wenn jemand einfach Informationen von der russischen Armee an den ukrainischen Geheimdienst geben könnte", analysiert der Experte. Er hält es ebenfalls für denkbar, dass in Russland Spiele gespielt werden.

"Möglicherweise hat eine konkurrierende Elite-Gruppe, etwa der russische Inlandsgeheimdienst, die Informationen geleakt, um Prigoschin eins auszuwischen, ihn als Verräter darzustellen und ihn davon abzuhalten, weiter Kritik zu üben", spekuliert Burkhardt.

Die Ziele des Wagner-Chefs sieht der Russland-Experte vor allem in drei Bereichen: Wirtschaft, Politik, Militär. "Prigoschin ist in erster Linie Unternehmer und versucht durch persönliche Kontakte in den Kreml Staatsaufträge zu bekommen und Geld zu verdienen", sagt Burkhardt. Er habe verschiedene Geschäftsbereiche aufgebaut – vom Catering für das Verteidigungsministerium, über Politikberatung bis hin zu Wachdiensten und Söldnertätigkeiten.

Was Prigoschin wirklich will

"Die russischen Verteidigungsausgaben sind in der Vergangenheit gestiegen und Prigoschin möchte ein möglichst grosses Stück vom Kuchen bekommen", glaubt der Experte. Die öffentliche Tätigkeit Prigoschins sei vor diesem Hintergrund auch als Lobbying zu sehen.

Militärisch sei Prigoschin daran interessiert, die Kampffähigkeit seiner Söldnertruppe weiter zu garantieren. "Ausserdem möchte er die Lorbeeren bekommen für die Erfolge im Kampf um Bachmut. Schon früh hat Prigoschin darauf hingewiesen, dass es um Bachmut anders stünde, wenn seine Truppen nicht mehr ausreichend versorgt werden", sagt Burkhardt.

Möglicher Nachfolger von Putin?

Dass Prigoschin Ambitionen hat, Nachfolger von Putin zu werden, glaubt Burkhardt nicht. "Man muss davon ausgehen, dass Putin im kommenden Jahr zu den Präsidentschaftswahlen wieder antreten wird. Momentan gibt es keine Kandidaten, die ihm ernsthaft Konkurrenz machen könnten", beobachtet er. Um freie und faire Wahlen handele es sich dabei ohnehin nicht.

Möglicherweise habe Prigoschin aber Interesse daran, den Verteidigungsminister Sergej Schoigu abzulösen. Hinter den Kulissen befinden sich die beiden seit Langen in einem Machtkampf. "Es gibt belastbare Informationen, dass Prigoschin dieses Ziel vorantreibt", so Burkhardt. Prigoschin versuche in diesem Rahmen auch in politische Parteien hineinzuwirken und habe in der ersten Jahreshälfte viele öffentliche Kontakte gesucht. "Prigoschin versucht sich im Staat festzusetzen, vor allem um seine Stellung als Unternehmer politisch zu untermauern", so der Experte.

Diskreditierungskampagne im Gespräch

Die Kritik, die der Wagner-Chef immer wieder an der Militärführung vorbringt, schmeckt nicht allen. Immer wieder hat sich Prigoschin über die fehlende Unterstützung des Verteidigungsministeriums und mangelnde Munition beklagt.

Berichten zufolge soll der Kreml in Reaktion auf Prigoschins wiederholte verbale Attacken bereits eine Diskreditierungskampagne gegen ihn diskutiert haben. Das Verteidigungsministerium habe dabei in Erwägung gezogen, Prigoschin durch einen Strohmann öffentlich in Misskredit zu bringen.

Dass Prigoschin seine Kritik immer noch so ungefiltert und laut öffentlich machen kann, erklärt Burkhardt so: "Bis zu einem gewissen Grad kann es für Putin von Vorteil sein, wenn es Konkurrenz innerhalb von Russland gibt. Seine Grundmaxime ist, dass er an der Macht bleiben möchte. Wenn sich verschiedene Behörden und Elite-Akteure bekämpfen, wird keine Söldnertruppe oder kein Ministerium so stark, dass sie Putin gefährlich wird." Diese Teile-und-Herrsche-Strategie sei eine Form der Machtsicherung von Putin.

Experte: "Wäre sehr gefährliches Zeichen"

Man müsse aber auch fragen, ob Prigoschin in seiner Kritik am russischen Verteidigungsministerium nur als Frontmann agiere. Burkhardt hält es auch für denkbar, dass eine weniger sichtbare Elite-Gruppe den Kriegsverlauf beeinflussen möchte. "Vielleicht möchte diese Gruppe die bislang erkämpften Territorien halten und keine weiteren Gebietsgewinne anstreben", mutmasst er.

Der negative Effekt der internen Machtkämpfe für Russland sei aber, dass die Koordination zwischen verschiedenen Kampftruppen erschwert werde, meint Burkhardt. Das wirke sich auf die Erfolge auf dem Schlachtfeld aus. Kritisch würde es für Putin, wenn Personen aus dem russischen Staat vermehrt zur Söldnergruppe Wagner überlaufen würden.

So soll der Ex-Vize-Verteidigungsminister Michail Misinzew nach seiner Entlassung zum stellvertretenden Kommandeur der Söldnergruppe Wagner ernannt worden sein. "Wenn sich solche Vorgänge mehren, wäre das als sehr gefährliches Zeichen zu werten", schätzt Burkhardt.

Über den Experten: Dr. Fabian Burkhardt ist Politikwissenschaftler am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung. Zu seinen Forschungsinteressen zählen politische Institutionen wie Exekutiven und Verfassungen in autoritären Regimen mit regionalem Schwerpunkt auf postsowjetische Länder, insbesondere Russland, Belarus und Ukraine.
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