- Monatelang lieferten sich die Ukraine und Russland einen Stellungskrieg, grosse Geländegewinne machte kaum eine Seite.
- Nun gelang den Ukrainern der Durchbruch, mehrere Tausend Quadratkilometer wurden befreit.
- Wie ist das möglich? Und: Ist das der Wendepunkt im Krieg? Militärexperte Gustav Gressel gibt Antworten.
Experten sprechen von einer der atemberaubendsten Gegenoffensiven der Militärgeschichte: Den ukrainischen Streitkräften ist es gelungen, innerhalb von nur fünf Tagen ein Gebiet von knapp 8.000 Quadratkilometern zurückzuerobern. Das entspricht ungefähr der halben Landesfläche von Thüringen. Die befreiten Gebiete liegen im Osten des Landes und umfassen beispielsweise die Städte Isjum und Kupjanks.
Zuvor hatte das Kräftemessen auf dem Schlachtfeld über lange Strecken nur zu minimalen Verschiebungen geführt, der Krieg war in die Phase eines Stellungskriegs übergegangen. Wie also konnten die Ukrainer das Ruder nun herumreissen?
Parallele Offensive in Cherson
Ein Ansatz: Kurz vor der jetzigen Offensive hatten die ukrainischen Streitkräfte auch im Süden des Landes um Cherson angegriffen. Als Reaktion verlegten die Russen Truppen aus dem Osten in die südliche Provinz– das sorgte für Lücken an anderen Abschnitten der Front.
So gelang es den Ukrainern, 20 Ortschaften wieder unter ihre Kontrolle zu bringen und die russischen Versorgungslinien zu durchtrennen. Am Ende hatten die Russen keine andere Wahl: Sie mussten den Verbänden bei Isjum den Rückzug befehlen. Erst hatte der Kreml von einer "strategischen Umgruppierung" gesprochen, räumte dann aber ein: Die ukrainischen Streitkräfte hatten sich bei ihrem Angriff klar in der Übermacht befunden.
Russische Kräfte stark überdehnt
Auch der amerikanische Aussenminister Antony Blinken nannte die Fortschritte der Gegenoffensive "bedeutend". Wie konnte die russische Herrschaft im Nordosten des Landes einstürzen? Militärexperte Gustav Gressel sagt: "Einerseits werden die ukrainischen Streitkräfte langsam stärker, weil im Frühling mobilgemacht wurde." Diese Kämpfer hätten nun Kriegserfahrung gesammelt und würden besser.
"Vor allem hat die russische Seite aber Personalprobleme, die immer wieder in Schüben kommen", so der Experte. Regelmässig würden Verträge auslaufen und neue Rekruten gesucht werden. Gleichzeitig sei es den Russen nicht entgangen, dass der Krieg schwer bis gar nicht zu gewinnen sei. "Sich bei einer verlierenden Armee zu melden, das machen nur wenige Leute. Unter Zwang wird man vielleicht Menschen bekommen, aber der Zerfallsprozess ist beschleunigt", analysiert Gressel.
Kampfmoral der Russen ist angekratzt
Auch die Kampfmoral der Russen an der Front ist entschieden angekratzt. Berichten des ukrainischen Geheimdienstes zufolge sollen russische Soldaten Krankheiten simulieren, um von der Armee loszukommen. "Viele russische Soldaten sind schlecht trainiert und spielen nicht als Team zusammen", beobachtet Gressel. Die Qualität sei verschlechtert, weil bei der Rekrutierung gehastet werden müsse.
Putins Feldzug leide unter einer starken Überdehnung der Kräfte. Die Dimensionen der jetzigen Niederlage seien gross, mehrere 10.000 Mann seien betroffen. "Nach der Ankündigung der Offensive in Cherson hatte Moskau die besten Verbände dorthin verlegt", erinnert er. Diese seien nun abgeschnitten worden. "Ihnen wird bald die Munition ausgehen", vermutet Gressel.
Experte Gressel: "Viel spricht für das ukrainische Momentum"
Er wähnt Russland zeitnah nicht mehr in der Stärke, die Initiative zurückzugewinnen. "Es wird schwierig sein, operative Reserven zu bilden, die gross genug sind, um ukrainische Angriffe abzuwehren", sagt Gressel weiter. Und das, während die Ukraine gute Vorbedingungen für einen weiteren Angriff hat.
"Sie hat sich bereits jetzt auf der anderen Seite von sehr wichtigen Flüssen etabliert", sagt Gressel. Den Ukrainern spiele in die Hände, dass sie die besseren Offiziere habe, die bessere Führung und bei den mechanisierten Kräften auch die besseren Funkgeräte.
"Zurzeit spricht vieles dafür, dass die Ukrainer ihre Erfolge weiter ausbauen", meint Gressel daher. Die grosse Frage, die sich aufseiten der Ukrainer stelle, sei jedoch die der Logistik. "Wie schnell kann Treibstoff nachgeführt werden? Wie schnell kommt man mit der Munition voran? Wie gut kann man die Fliegerabwehrkräfte versorgen, die die russische Luftwaffe abdrängen und die Effizienz der russischen Luftangriffe stark behindern?", führt Gressel aus. Antworten auf die Fragen seien schwierig, es spreche aber viel für das ukrainische Momentum und die Tatsache, dass sich der Krieg zugunsten von Kiew gewendet hat.
Wirft Putin jetzt die Atombombe?
Mehr als ein Unentschieden oder ein Waffenstillstand ist aus Sicht von Gressel für Moskau nicht mehr drin. Angesichts dieser angeschlagenen Lage stellt sich eine neue Frage: Greift Putin nun zur Atombombe oder verkündet eine Generalmobilmachung? Gressel hält eine Generalmobilmachung für den wahrscheinlicheren Fall.
"Sie birgt für Putin allerdings erhebliche innenpolitische Risiken", sagt er. Der Krieg sei in der russischen Bevölkerung nicht ausreichend populär. "Auch bei einer Generalmobilmachung würden nicht sofort Horden über die Ukraine herfallen, die Ausbildung muss schliesslich erst noch beendet werden", sagt er. Viele Berufs- und Zeitsoldaten seien bereits im Krieg. "Es würde bis zu sechs Monate dauern, bis man Reservisten mobilmachen, trainieren, zu Verbänden zusammenfügen und losschicken könnte. Das könnte zu spät sein", schätzt Gressel.
Gressel: "Putin ist ein Kontrollfreak"
Für die russischen Kriegsziele seien erheblich mehr Kräfte vonnöten, als sie jetzt im Krieg seien oder noch mobilisiert werden könnten. "Viele russische Offiziere sind zudem bereits gefallen oder gefangen genommen. Man hat kaum die Führungskader, um so eine grosse Armee zu befehligen. Die Schwierigkeiten addieren sich auf", sagt der Experte.
Den Einsatz einer Atombombe sieht Gressel derzeit nicht. "Mit einer Atomwaffe allein würde sich die jetzige Offensive gar nicht stoppen lassen. Um eine dezentralisierte Armee auszuschalten, müsste Putin 20 bis 30 Atomwaffen einsetzen", meint er. Das wiederum hätte enorme Aus- und Rückwirkungen für Russland. "Putin ist ein Kontrollfreak, er will die Lage nicht aus seinen Händen gleiten lassen", schätzt Gressel.
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