Ende Juni brennt im ukrainischen Krementschuk ein Einkaufszentrum ab, Menschen werden verletzt und sterben. Das russische Verteidigungsministerium behauptet, das Center sei an dem Tag geschlossen gewesen und zufällig durch einen Angriff auf ein militärisches Ziel in Brand geraten. Videos und Kassenzettel vom Tag des Angriffs deuten aber darauf hin, dass das falsch ist.
Am 27. Juni stand das Amstor-Einkaufszentrum in Krementschuk in der Ukraine in Flammen. In sozialen Netzwerken kursierten anschliessend Behauptungen, das Einkaufszentrum sei von einer russischen Rakete getroffen worden. Zum Zeitpunkt des Einschlags soll es jedoch geschlossen gewesen sein, Menschen hätten sich dort also nicht aufgehalten. Dass keine Menschen vor Ort waren, behauptete laut der russischen Nachrichtenagentur RIA am 28. Juni auch das russische Verteidigungsministerium. Vom Ministerium und in anderen Beiträgen hiess es ausserdem, das Gebäude sei durch einen Angriff auf ein militärisches Ziel in der Nähe in Brand geraten.
Diese Behauptungen sind falsch. Videos und Augenzeugenberichte belegen, dass zum Zeitpunkt des Angriffs Menschen vor Ort waren und verletzt wurden. Es gibt mehrere Hinweise, dass das Einkaufszentrum das Ziel des Angriffs war.
Einkaufszentrum Amstor in Krementschuk stand nach Angriff in Flammen
Laut dem Staatlichen Dienst der Ukraine für Notsituationen traf ein russischer Raketenangriff am 27. Juni um 15.53 Uhr das Einkaufszentrum Amstor in Krementschuk. Medien veröffentlichten Aufnahmen des abgebrannten Shopping-Centers.
Der ukrainische Präsident
Angaben von Google Maps beweisen nicht, dass das Einkaufszentrum geschlossen war
In Beiträgen in sozialen Netzwerken wird behauptet, das Einkaufszentrum sei laut Angaben des Online-Kartendienstes Google Maps seit März geschlossen gewesen. Dass zum Zeitpunkt des Einschlags Menschen vor Ort waren, leugnete auch der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow.
Im Netz kursierte ein Screenshot von Google Maps, der angibt, das Zentrum sei geschlossen gewesen. Wann er entstanden ist, lässt sich nicht sagen. Informationen von Google Maps beruhen aber auf Nutzerdaten und sind nicht unbedingt korrekt. Im Fall des Einkaufszentrums waren die Angaben offenbar falsch, Geschäfte im Einkaufszentrum werden auch jetzt noch als "geöffnet" gelistet. Zudem war den Angaben zufolge das Einkaufszentrum am 28. Juni 2022, also einen Tag nach dem Anschlag, wieder als geöffnet geführt.
Es gibt Kassenzettel aus dem Einkaufszentrum vom Tag des Angriffs
Auf Telegram teilten mehrere Nutzer Quittungen aus dem Amstor-Einkaufszentrum: Sie sollen Einkäufe vom Tag des Anschlags zwischen 10 Uhr und 15.45 Uhr zeigen – also kurz vor dem Raketenangriff.
Die Faktencheck-Redaktion der AFP veröffentlichte ebenfalls mehrere Kassenbelege aus dem Einkaufszentrum, die auf den 11. und 17. Juni datiert sind.
Es gibt zudem weitere Hinweise, dass das Einkaufszentrum an den Tagen vor dem Angriff geöffnet war: Die britische Internetseite The Guardian teilte eine Nachricht, die angeblich am 23. Juni von der Verwaltung des Einkaufszentrums verschickt wurde und in der die Angestellten aufgefordert wurden, das Zentrum von 8 Uhr morgens bis 21 Uhr abends zu öffnen – auch bei Luftalarm. Mindestens fünf Angestellte bestätigten demnach, dass sie die Nachricht erhalten hatten.
Die Einzelhandelskette Comfy erklärte zuletzt am 25. Juni im Netz, dass ihre Filiale im Einkaufszentrum geöffnet sei.
Satellitenbilder zeigen, dass sich der Brand nicht wie von Russland behauptet ausbreitete
Fakt ist: Das Einkaufszentrum brannte am 27. Juni fast vollständig ab, wie Satellitenbilder und Fotos von Nachrichtenagenturen zeigen. Das Recherche-Kollektiv Bellingcat fand ein Video auf Twitter, das eine Person zeigt, die offenbar aus dem verrauchten Gebäude flüchtet und dabei Männer und Frauen auf dem Parkplatz filmte. In den Stunden nach dem Angriff wurden Beiträge mit Details zu vermissten Personen in einem lokalen Telegram-Kanal veröffentlicht, wie Bellingcat weiter berichtete. Journalistinnen und Journalisten sprachen mit Kunden und Angestellten vor Ort, die sich zum Zeitpunkt des Angriffs im Gebäude aufhielten.
Das russische Verteidigungsministerium behauptete, dass eigentlich ein militärisches Ziel anvisiert worden sei und sich das Feuer von dort auf das Einkaufszentrum ausgebreitet habe. Wie die russische Nachrichtenagentur RIA berichtete, griffen russische Streitkräfte eine Halle mit "Waffen und Munition aus den Vereinigten Staaten und europäischen Ländern" in der Nähe der Fahrzeugfabrik Krementschuk an. Die dort gelagerten Waffen sollen angeblich für ukrainische Streitkräfte im Donbass bestimmt gewesen sein. Das Feuer soll sich von dort auf das Einkaufszentrum nebenan ausgebreitet haben.
Recherchen von Bellingcat ziehen diese Aussage in Zweifel. Sie ergaben, dass Gebäude zwischen den beiden mutmasslichen Einschlagsorten unversehrt blieben.
Das zeigen auch Satellitenbilder vom Tag nach dem Angriff: Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch erhielt Zugang zu der Fabrik und dem Einkaufszentrum und veröffentlichte am 30. Juni einen Bericht über die Schäden vor Ort. Demnach gebe es keine Hinweise, dass dort "von den USA und europäischen Ländern gelieferte Waffen und Munition" gelagert wurden.
In dem Bericht von Human Rights Watch heisst es weiter: "Die [erste] Rakete traf das Einkaufszentrum gegen 16 Uhr, zerstörte es und beschädigte mehrere Fahrzeuge auf dem Parkplatz. Minuten später traf eine zweite Rakete [rund 450 Meter entfernt] die Nordseite der Kremenchuk Road Vehicle Factory, eines grossen Industriekomplexes, der weniger als 40 Meter hinter dem Einkaufszentrum liegt [...]." Zudem hätten vier Kameras den Einschlag einer zweiten Rakete um 15.59 Uhr aufgezeichnet.
Fazit: Das Einkaufszentrum in Krementschuk war zum Zeitpunkt des Einschlags geöffnet – dies ist durch Fotos, Videos und Augenzeugenberichte belegt. Satellitenbilder deuten ausserdem darauf hin, dass das Einkaufszentrum direkt beschossen wurde und nicht zufällig in Brand geriet.
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