• Der Donbass im Osten der Ukraine steht seit 2014 im Zentrum des Krieges.
  • Die Bewohner sehnen sich nach einem Ende der Kampfhandlungen.
  • Einige unterstützen dafür sogar die russischen Invasoren.
Eine Reportage
von Daphne Rousseau (AFP)
Dieser Text enthält neben Daten und Fakten auch die Eindrücke und Einschätzungen von Daphne Rousseau (AFP). Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Seit Beginn der russischen Offensive in der Donbass-Region leistet die ukrainische Armee heftigen Widerstand. Doch nicht alle Menschen in der Ostukraine wünschen sich den Sieg über Russland. Ob aus einem Gefühl der Zugehörigkeit heraus, aus Nostalgie für die Sowjetära oder einfach aus Hoffnung, der Krieg möge bald enden: Viele sehen dem Vormarsch russischer Truppen ohne Furcht oder sogar hoffnungsvoll entgegen.

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Auf einem Markt der Industriestadt Lysytschansk schildert Olena ihre Sicht der Dinge: "Formell gesehen sind wir ukrainisch. Aber der Donbass ist nicht die Ukraine." Die Ukrainer seien "die Fremden hier, nicht die Russen". Olena ist nicht der richtige Vorname der Frau. Sie will nicht mit ihrem korrekten Namen zitiert werden - denn ihre Meinung könne sie "ins Gefängnis" bringen, sagt sie.

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Unterstützung für die Invasoren

Seit Jahren wirft Moskau der Regierung in Kiew vor, Russisch sprechende Menschen im Donbass zu diskriminieren. Die Region wird seit 2014 teilweise von prorussischen Separatisten kontrolliert. Der Kreml nennt als Ziel seiner Militäroffensive, die noch unter Kiews Kontrolle stehenden Gebiete der Bergbau- und Erdölregion "befreien" zu wollen.

Einige ukrainische Soldaten haben tatsächlich das Gefühl, sie befänden sich bereits in Feindesland. Iryna, Unteroffizierin der ukrainischen Armee, sagt: "Selbst wenn wir alles Mögliche tun, um unsere Stellungen zu tarnen, die Bewohner hier geben der anderen Seite Informationen über uns." So verkündet Kiews Armee auch regelmässig die Festnahme von "Saboteuren" im Donbass.

Wadim Ljach, Bürgermeister der Stadt Slawjansk im Nordwesten des Donbass, sagt über die Stimmungslage in Teilen der Bevölkerung angesichts des russischen Vormarschs: Es gebe "Leute, denen es im besten Fall egal ist und die im schlimmsten Fall auf die Ankunft der Russen hoffen".

Während Besuch von UN-Generalsekretär Guterres: Erneute Raketenangriffe auf Kiew

Am Donnerstag wurde Kiew erneut Ziel von russischen Raketenangriffen. Laut Präsident Wolodymyr Selenskyj trafen fünf Raketen die ukrainische Hauptstadt unmittelbar nach einem Treffen mit UN-Generalsekretär António Guterres. Selenskyj warf Russland vor, die UN demütigen zu wollen. Laut ukrainischen Angaben war es der erste Raketenangriff seit rund zwei Wochen.

Erinnerungen an die Sowjetzeit

Die Mehrheit der Bevölkerung im Donbass ist russischsprachig. Moskau liess nach dem Zweiten Weltkrieg in der Region viele Russen ansiedeln. Viele Einwohner beklagen vor allem, dass es seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion mit der Wirtschaft der Region bergab gegangen sei.

Olena arbeitete drei Jahrzehnte lang in einer Ölraffinerie in Lysytschansk. Der Donbass habe zur Sowjetzeit "alles" gehabt: "Kohle, Salz, Chemieindustrie", sagt sie. "Während die Ukrainer auf dem Maidan demonstriert haben, haben wir gearbeitet", kommentiert sie die Proteste in Kiew von 2014, die mit dem Sturz der Russland-freundlichen Regierung endeten.

In einem Bunker der Frontstadt Sewerodonezk finden seit zwei Monaten mehr als 160 Anwohner Schutz vor Raketen. Viele von ihnen werfen der ukrainischen Armee vor, ihr Dorf zu bombardieren, nicht den russischen Truppen.

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"Warum sollten wir Angst vor den Russen haben?"

Tamara Doriwientko, eine pensionierte Englischlehrerin, sitzt auf einem Feldbett in dem Bunker und liest Jane Austen, während sie auf das Ende des Beschusses wartet. "Warum sollten wir Angst vor den Russen haben?" fragt sie. "Wir haben 70 Jahre in der Sowjetunion gelebt. Wir sind ähnlich."

Die Rentnerin wirkt jedoch hin- und hergerissen. Sie sagt, sie sympathisiere mit Moskau, aber "liebe" auch die Ukraine - "ein schönes Land mit vielen Freiheiten". Deshalb hätte Doriwientko es nach eigenen Worten auch vorzogen, weiterhin in der Ukraine zu leben. Doch geht sie davon aus, dass sie künftig unter russischer Regierung leben wird: "Die Entscheidung wurde für uns getroffen", stellt sie fest.

Bürgermeister Ljach sagt, es gebe wenig, was die ukrainischen Behörden gegen die prorussische Stimmung unternehmen könnten. Dieser Teil der Bevölkerung wolle, dass der Krieg ende und sehe "kein Problem mit Russlands Kampfhandlungen". Doch setzt Ljach darauf, dass die Zerstörung russischsprachiger Städte wie Mariupol und Charkiw durch die Invasionstruppen in der Moskau-freundlichen Einwohnerschaft doch noch "die Meinung ändern" wird.  © AFP

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