- Viele Dörfer und Städte in der Zhytomyr-Region leiden. In der Stadt Olewsk und den umliegenden Dörfern ist es trotz Kriegsbeginn ruhig – noch gab es dort keine Kämpfe oder militärischen Angriffe.
- Und doch hat sich auch dort einiges geändert, seit Russland in die Ukraine einmarschiert ist.
- Alina Hryhoruk, die in Zaboroche lebt, erzählt uns im Interview, mit welchen Schwierigkeiten sie und die Menschen dort zu kämpfen haben.
Wie hat sich Ihr Leben seit Kriegsbeginn geändert?
Alina Hryhoruk: Mein Leben hat sich eigentlich nicht besonders verändert, weil ich in einem Dorf lebe. Ich gehe meinem Alltag nach, ganz wie vor Kriegsbeginn. Allerdings findet meine Ausbildung nur noch remote statt. Deshalb verbringe ich die meiste Zeit zu Hause und treffe meine Freunde kaum noch. Ich kann nicht einmal in die nächste Stadt fahren, weil ich Angst habe, dass etwas auf dem Weg dorthin passieren könnte. Ausserdem wurden viele Strassen und Brücken zerstört. Als ich zum Beispiel ins Studentenwohnheim gefahren bin, um meine Sachen zu holen, war eine Brücke in der Nähe von Korosten zerstört und wir mussten einen anderen Weg in die Stadt nehmen. Es macht mir ausserdem Angst, dass die Strassen vermint sein könnten. Es könnte jederzeit Explosionen geben. Auch Benzin gibt es in der Ukraine nicht mehr viel und es ist sehr teuer. Deshalb bleiben die Menschen lieber zu Hause.
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Wie ist die Arbeitssituation in Ihrem Dorf oder auch in der nächsten Stadt?
Es gibt keine Jobs in der nächsten Stadt und im Dorf erst recht nicht. Der Arbeitsmarkt war schon vor dem Krieg schwierig, aber jetzt ist es noch schlimmer. Auch wenn man wirklich intensiv sucht, bekommt man keinen Job. Die einzige Branche, in der man noch halbwegs gute Chancen hat, ist der Verkauf, da der Handel enorm wichtig ist für uns gerade. Aber auch in dieser Branche gibt es nur wenige Stellen und viele Bewerber.
Wie steht es um die Bildung – was hat sich da für Sie und Ihre Familie verändert?
In unserem Dorf gibt es noch Internet, also findet der Unterricht online statt, allerdings etwas abgeschwächt. Die Lehrer vergeben nicht zu viele Aufgaben und sind sehr verständnisvoll. Ausserdem wurden Abgabe-Deadlines deutlich verlängert. Vor dem Krieg mussten wir immer alles schnell machen. Ich habe einen kleinen Bruder, der noch zur Schule geht. Er hat auch Distanzunterricht, alle Aufgaben wurden über das Programm Viber geschickt, wir machen sie zu Hause und schicken sie dann an den Lehrer zurück.
Wie gut sind Supermärkte und Apotheken noch bestückt?
Das Sortiment in den Läden hat sich eigentlich nicht besonders verändert, aber es gibt nicht genug Medikamente. Es mangelt zum Beispiel an Herztabletten. Und die Preise in den Läden und den Apotheken sind auch immens gestiegen.
Wie ist die Stimmung bei den Menschen im Dorf?
Die Menschen, die hier wohnen, haben sehr unterschiedliche Einstellungen und eine sehr unterschiedliche Sicht auf die Dinge. Aber die meisten Menschen in meinem Dorf sind ruhig. Sie leben weiter; sie lassen sich nicht entmutigen. Viele arbeiten in der Landwirtschaft und gehen einfach weiter ihrem Job nach. Klar gibt es auch Leute, die Angst haben und in Panik verfallen. Und manche denken einfach gar nicht an den Krieg.
Warum haben Sie sich entschieden, die Ukraine nicht zu verlassen?
Die Ukraine ist meine Heimat, hier wurde ich geboren und hier werde ich auch sterben. Aber der wichtigere Grund ist, dass ich hier eine grosse Familie habe, die ich nicht verlassen will. Meine Grosseltern, meine Mutter und mein Bruder sind hier. Ausserdem habe ich noch drei Cousins, die die Ukraine nicht verlassen dürfen und eine Tante, die schwanger ist. Deshalb habe ich entschieden, dass ich nirgends hingehe.
Könnten Sie sich überhaupt vorstellen, Ihr Dorf zu verlassen?
Vielleicht, aber nur, wenn hier wirklich aktiv gekämpft werden sollte und es nicht mehr möglich ist, hier zu leben. Dann könnte ich mir vorstellen, ins Ausland zu gehen, irgendwohin, wo es ruhiger und friedlich ist. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass ich dort lange bleibe. Ich würde eher kurze Zeit dort bleiben, bis sich die Situation in meinem Dorf beruhigt hat.
Was ist das grösste Problem, mit dem Sie sich seit Kriegsbeginn konfrontiert sehen?
Das grösste Problem für uns sind die gestiegenen Preise für Essen, Hygieneprodukte und Putzmittel. Einige Sachen sind auch einfach aus den Läden verschwunden, zum Beispiel Waschmittel. Ausserdem sind Benzin und Diesel in der ganzen Ukraine knapp. Davon ist unser Dorf auch betroffen. Selbst wenn Benzin zur Verfügung steht, geben sie uns nur zehn bis zwanzig Liter. Manchmal kriegt man es auch nur, wenn man Coupons hat, dann haben die meisten normalen Menschen gar keine Chance.
Woher bekommen Menschen in Ihrem Dorf Geld? Wie decken sie ihre Lebenshaltungskosten?
Die Menschen haben viele Geldprobleme. Aber Rentner beziehen auch weiterhin ihre Rente. In fast jedem Haus wohnen ältere Menschen, die Geld vom Staat bekommen. Davon leben die Menschen. Manche gehen aber auch nach Kiew oder in andere grosse Städte, wo es noch Jobs gibt. So sorgen sie für sich und ihre Familien. Ich kenne auch viele Mädchen, die nach Deutschland gegangen sind, um auf den Erdbeerfeldern zu helfen. Und die Menschen, die hier bleiben, arbeiten oft einfach weiter auf den Feldern und pflanzen Kartoffeln und Tomaten – wie vorher. Wir verstehen, dass unser Leben mit dem Krieg nicht vorbei ist. Wir müssen trotzdem weiterarbeiten, sonst haben wir nichts zu essen. Die Menschen schauen weiter auf sich, obwohl jetzt Krieg in ihrem Land herrscht.
Hat Ihnen der Krieg für irgendwas die Augen geöffnet?
Der Krieg hat uns geholfen zu verstehen, dass die meisten Russen nicht unsere Freunde sind. Ich habe angefangen, unsere eigene Sprache mehr wertzuschätzen, verwende keine russischen Wörter mehr und versuche reines Ukrainisch zu sprechen. Ausserdem will ich unsere Kultur und unsere Musik mehr unterstützen. Ich will keine russischen Künstler mehr in meiner Playlist haben. Ausserdem hat mir der Krieg geholfen zu verstehen, was ich für eine wundervolle Familie habe und wie sehr ich sie liebe. Vor dem Krieg war mein Leben gut. Viele Dinge, die ich noch vor dem Krieg als katastrophal wahrgenommen haben, sind mir heute egal und ich habe verstanden, wie unwichtig diese Probleme im Vergleich zu den aktuellen Herausforderungen waren. Ich habe meine Sicht auf das Leben und die Welt komplett geändert. Ich habe mich verändert.
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