- Russlands Präsident Wladimir Putin droht mit dem Einsatz von Atomwaffen – doch er allein könnte ihn nicht anordnen.
- Der Präsident verfügt nur über einen von drei Atomkoffern. Wie viele dieser "Chegets" es braucht, um Raketen abzufeuern, ist unklar.
Der Krieg gegen die Ukraine ist Wladimir Putins Krieg. Der russische Präsident lässt daran keinen Zweifel, er allein bestimmt. So auch am Sonntag, als er den Verteidigungsminister und den Generalstabschef zu sich an den langen Konferenztisch zitierte, um einen Befehl zu erteilen, der viele Menschen in Angst und Schrecken versetzt: die "Abschreckungskräfte" der Armee, die Atomwaffen also, sollen in "besondere Kampfbereitschaft" versetzt werden.
Doch ausgerechnet in diesem Punkt hat der Alleinherrscher im Kreml nicht die volle Verfügungsgewalt. Um einen Atomschlag auszuführen, braucht es mehr als den sprichwörtlichen "Roten Knopf". Eine komplizierte Befehlskette muss aktiviert werden, in der
Wie genau das Prozedere für einen Atomschlag aussieht, ist nur in Grundzügen bekannt, ähnlich wie den berühmten US-amerikanischen Atomkoffer umwehen sein russisches Gegenstück, den sogenannten "Cheget", Gerüchte und Spekulationen.
Russlands Atomwaffen: Drei Koffer, ein Befehl
Klar scheint: Insgesamt gibt es drei Koffer, deren Inhaber am Sonntag alle am langen Konferenztisch im Kreml versammelt sassen – der Präsident, der Verteidigungsminister und der Generalstabschef.
Im Gegensatz zum amerikanischen Modell, dem wuchtigen, ledernen "Football", wirkt der russische "Cheget" nüchterner und moderner: eine schmale Hartschalen-Aktentasche, die stets in Reichweite des Präsidenten bleibt, verwahrt von einem Offizier in auffälliger Marineuniform, angeblich, um den Träger problemlos auch in Massenansammlungen identifizieren zu können.
Sicherheitsexperten gehen gemeinhin davon aus, dass nach einer Entscheidung für den Einsatz von Atomwaffen, der laut Verfassung allein dem Präsidenten als Oberbefehlshaber der Streitkräfte zusteht, das Cheget-Trio den Befehl gibt. Im Ernstfall würde wohl zunächst Wladimir Putin seinen persönlichen Code in seinen Atomkoffer eingeben, danach fügt der Verteidigungsminister seinen Code hinzu, zuletzt folgt der Generalstabschef, von dessen Cheget aus dann der eigentliche Befehl an die Einheiten vor Ort gesendet werden würde.
Der Cheget, ein Machtsymbol
So zumindest lief die Befehlskette noch zu Sowjetzeiten ab, als der Atomkoffer 1983 entwickelt wurde, weil dem Politbüro dämmerte, wie schnell die Reaktion auf einen amerikanischen Erstschlag erfolgen müsste – die US-Raketen konnten ihre Ziele damals innerhalb von weniger als zehn Minuten erreichen.
Der Cheget wurde über die Jahre zu einer Art Zepter, zu einem Symbol der Herrschaftsgewalt, das bei jedem Machtwechsel feierlich übergeben wurde. Der siechende Präsident Boris Jelzin soll nach einer Operation Mitte der Neunziger noch gar nicht ganz aus der Narkose erwacht sein, als er schon den Atomkoffer von seinem Stellvertreter zurückerlangte.
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Jelzin war es auch, der den Cheget 1995 zum – offiziell – einzigen Mal öffnete, als die russische Armee eine norwegische Forschungsrakete für eine US-Tridentrakete hielt. Das Missverständnis konnte aufgeklärt werden, bevor Jelzin einen "Gegenschlag" anordnete. Das Modell des Ex-Präsidenten ist übrigens im Jelzin-Museum ausgestellt, es hat nur vier grosse Knöpfe, angeblich haben die Entwickler die Bedienung einfach gestaltet, um die oftmals alten Sowjetpolitiker nicht zu überfordern.
Das Prinzip der russischen Befehlskette dürfte auch heute noch ähnlich aussehen, einige Experten vermuten allerdings, das Prozedere könnte enger auf Wladimir Putin zugeschnitten sein. Im "Heute Journal" berichtete Moskau-Korrespondent Christian Semm etwa, es brauche nur zwei von drei Koffern, um einen Atomschlag auszuführen. Und Verteidigungsminister Schoigu, fügte Semm hinzu, sei ein enger Begleiter des Präsidenten.
Putins Krieg gegen die Ukraine: Wird es brenzlig?
Der Sicherheitsforscher Joachim Krause weist im Gespräch mit unserer Redaktion auf ein weiteres Problem hin: "Alles, was über die Befehlskette bekannt ist, bezieht sich auf die strategischen Atomwaffen. Aber die nicht-strategischen Waffen sind viel wichtiger." Unter strategischen Atomwaffen versteht man Langdistanz-Raketen mit einer Reichweite von mehr als 5.000 Kilometern und höherer Explosionskraft. "Die befinden sich sowieso – wie auch in den USA – ständig im Alarmzustand", sagt Krause.
Die nicht-strategische Waffen könnten auch im Feld eingesetzt werden - und kommen damit im Ukraine-Krieg eher in Frage. Russland besitzt laut dem aktuellen Bericht im "Bulletin of the Atomic Scientists" rund 2.000 dieser Sprengköpfe, die wohl zum Grossteil im Westen des Landes gelagert werden. "Die nicht-strategischen Atomwaffen befinden sich in Friedenszeiten in der Regel in Lagern. Erst ab einer bestimmten Alarmstufe werden sie in Waffensysteme integriert." Das könne dauern, wenn beispielsweise Raketen erst auf Schiffe transportiert werden müssen.
Welche Alarmstufe ausgerufen wird, entscheidet in Russland dieser Tage wohl nur Wladimir Putin selbst. Wie ein Einsatz dieser nicht-strategischen Atomwaffen laufen würde, weiss Krause nicht: "Wie genau die Befehlskette läuft, kann ihnen niemand sagen. Es könnte ähnlich laufen wie bei den strategischen Waffen, oder ein einfacheres System geben."
Verwendete Quellen:
- Gespräch mit Professor Joachim Krause, Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik der Universität Kiel.
- ZDF: Heute-Journal vom 27.02.2022; Gespräche mit Russland-Korrespondent Christian Semm und Egon Ramms, Ex-Nato-General.
- Bulletin of the Atomic Scientists: Hans M. Kristensen / Matt Korda: Nuclear notebook. How many nuclear weapons does Russia have in 2022?
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