- Die Sanktionen gegen Russland sind die härtesten in der jüngeren Geschichte des Westens.
- Dennoch vermeldete Moskau zuletzt überraschend gute Wirtschaftszahlen.
- Sind die Massnahmen deshalb nutzlos?
Ein Jahr ist es her, dass russische Truppen in der Ukraine einfielen. Nun will die EU ein weiteres Sanktionspaket gegen Russland verhängen – das zehnte seit Kriegsbeginn.
Geht es nach Kommissionspräsidentin
Auch die Ausfuhr von Gütern mit sogenanntem doppeltem Verwendungszweck soll eingeschränkt werden, ergo "alle Tech-Produkte, die auf dem Schlachtfeld benötigt werden", wie von der Leyen es formulierte. Neu im Vergleich zu den vergangenen Paketen ist, dass auch Unternehmen aus Drittstaaten unter die Sanktionen fallen, wenn sie Russland mit Seltenen Erden, Wärmebildkameras oder Kriegsgerät versorgen. Diese Massnahme zielt insbesondere auf den Iran ab, dessen Revolutionsgarden Russland fleissig mit Kampfdrohnen beliefern. Ausserdem will die EU neue Sanktionen gegen Oligarchen, Militärs oder Propagandisten verhängen.
Während die Brüsseler Bürokraten am vergangenen Montag noch an ihrem Sanktionspaket schnürten, veröffentlichte das russische Statistikamt Rosstat Zahlen, die das einhellige Urteil der westlichen Beobachter, Sanktionen würden Russland ökonomisch ruinieren, zumindest relativierten. Demnach schrumpfte Russlands Wirtschaft im vergangenen Jahr lediglich um 2,1 Prozent und damit um 0,8 Prozentpunkte weniger, als es die Statistiker in Moskau noch im vergangenen Herbst befürchtet hatten. Auch der Internationale Währungsfonds (IWF) geht mittlerweile davon aus, dass Russland in diesem Jahr mit 0,3 Prozent stärker wachsen wird als Deutschland mit 0,1 Prozent.
Wirtschaftszahlen täuschen über den Ernst der Lage hinweg
Klar ist: Die Zahlen aus Moskau sind mit Vorsicht zu geniessen. Sie geben nur begrenzt darüber Auskunft, ob die Sanktionen gegen das Land wirken, weil ihre Zuverlässigkeit fraglich ist und ökonomische Rechentricks die Lage schöner aussehen lassen können, als sie ist.
Da wäre zum einen die Tatsache, dass Russland derzeit Milliarden in die Kriegswirtschaft steckt und sich auf diesem Weg Wachstum kauft, welches die Einbrüche auf Seiten der privaten Haushalte kaschiert. Obwohl Russlands
So haben die USA und Europa ihren Fluggesellschaften nicht nur verboten, in russischen Luftraum einzufliegen, was die Passagierzahlen an russischen Flughäfen um rund 20 Prozent einbrechen liess. Flugzeughersteller wie Airbus und Boeing dürfen seit Kriegsbeginn auch keine Ersatzteile oder sonstige Technik nach Russland liefern. Selbst die in der Luftfahrtindustrie besonders wichtige Fernwartung ist ausgesetzt.
Trotzdem hat Russland mit einer unkonventionellen Methode bislang den kompletten Stillstand seiner Luftfahrtindustrie abgewandt. Aktuell legt Russland einzelne Flugzeuge still, um sie als Ersatzteillager für baugleiche oder zumindest ähnliche Muster "auszuschlachten". Modernste westliche Airliner wie der Airbus A350, die rund 80 Prozent der Flotte von Aeroflot ausmachen, werden aus diesem Grunde stillgelegt, um mindestens zwei Drittel der Flieger in der Luft halten zu können – eine Marke, die der Kreml zuletzt ausgegeben hat. Dass dieses Wartungskonzept ohne schnellen Nachschub mit einem Ablaufdatum versehen ist, liegt auf der Hand: Nach Schätzungen des "Economist" wird in Russland in zwei Jahren jedes fünfte zivile Flugzeug am Boden bleiben müssen.
Sanktionspakete sind teilweise zu löchrig
Doch nicht in jeder Branche spielt die Zeit gegen Russland. "Die Zeit, die die Sanktionen brauchen, um zu wirken, hat Russland genutzt, um beispielsweise seine Wirtschaft und Finanzen anzupassen oder Exporte und Importe umzulenken", erklärt Klein. Das sei insbesondere bei den Sanktionen gegen den Finanzsektor sichtbar. Wenige Wochen nach Kriegsbeginn waren zahlreiche russische Banken vom sogenannten Swift-System abgekapselt worden, mit dem internationale Zahlungsströme digital und kostengünstig abgewickelt werden. Ausländische Investoren erhielten daraufhin keine Zahlungen mehr für ihre russischen Staatsanleihen, der Rubel wankte, Russland war technisch zahlungsunfähig.
Zu einem grossen finanziellen Kollaps kam es trotzdem nicht. Das lag vor allem daran, dass grosse Banken wie die Gazprombank – zuständig für den Zahlungsverkehr von Öllieferungen in den Westen – ausgenommen waren. "Zudem wurden inzwischen Umwege über China gefunden", sagt Klein.
Positiver bewertet der Experte die Auswirkungen des Mitte 2022 in Kraft getretenen Importverbots von russischem Öl und den damit verbundenen Preisdeckel. Zwischen April 2022 bis Januar 2023 sind die täglichen Einnahmen durch den Verkauf fossiler Energieträger auf dem wichtigsten Absatzmarkt Europa von mehr als 700 Millionen Euro auf unter 120 Millionen Euro gesunken. "Da die Staatskasse zu grossen Teilen von Energieexporten abhängig ist, reisst dies ein grosses Loch in die öffentlichen Finanzen, zumal die Ausgaben durch den Krieg drastisch gestiegen sind", erläutert Klein.
Vollständig kollabiert ist der russische Energiemarkt trotzdem nicht. Das liegt zum einen daran, dass lange Fristen bei den Sanktionsmechanismen den Preis für russisches Rohöl und Diesel 2022 in die Höhe schnellen liessen und Russland so trotz geringerer Fördermengen im Sommer höhere Einnahmen erzielen konnte als in den Vorjahren. Mittlerweile gehen die Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft jedoch Monat für Monat zurück, weil Länder wie China und Indien von Russland hohe Preisrabatte verlangen. Auch hier dürften die Sanktionen in den kommenden Monaten ihr volles Potenzial entfalten.
Iran betätigt sich als willfähriger Helfer Moskaus
Schwer zu quantifizieren sind hingegen die Einnahmen, die Russland über den Schwarzmarkt generiert. Recherchen der "Financial Times" legen nahe, dass der Kreml vom Iran dabei unterstützt wird, Öl mittels einer Schattenflotte über die Weltmeere zu transportieren. Mindestens 16 solcher Tanker seien seit dem Rohölembargo im Einsatz, einer wurde sogar vor Gibraltar gesichtet.
Überhaupt zeigt sich der Iran schon seit Jahren als willfähriger Helfer, wenn es darum geht, Russland bei der Umgehung oder Kompensation internationaler Sanktionen zu helfen. Sogenannte 'Dual-Use-Güter', die nicht nur für zivile, sondern auch für militärische Zwecke genutzt werden können, wurden bereits nach der Annexion der Krim 2014 sanktioniert. Dank Teheran konnte Russland dennoch eine Gasturbine auf die Krim bringen – gebaut von der deutschen Firma Siemens.
Ganz spurlos gehen diese Sanktionen an Russland nicht vorbei. Insbesondere beim Raketenbau schmerzt die Abwesenheit westlicher Technologie. Von geschätzt 2.500 Raketen, mit denen Russland in den Krieg startete, ist heute etwa die Hälfte verbraucht. Und die Produktion läuft mangels Teilen nur schleppend. Nach Ansicht internationaler Beobachter setzt Russland daher bei Angriffen auf ukrainische Energieinfrastruktur immer öfter iranische Kamikaze-Drohnen ein. "Bis die Sanktionen sich merklich auf die russische Kriegsführung auswirken, kann noch einige Zeit vergehen", prognostiziert Klein. "Aktuell deutet sich ausserdem an, dass China Russland zukünftig militärisch unterstützen könnte – dadurch könnte die russische Armee trotz der westlichen Sanktionen mit Waffennachschub versorgt werden."
Drittländer-Sanktionen könnten wichtige Schlupflöcher schliessen
Auch im Bereich der Hochtechnologie kann sich Moskau auf befreundete Länder verlassen: Daten zu Handelsströmen zeigen, dass etwa die Türkei, China, Kasachstan, Belarus und Kirgisistan einspringen und die westlichen Produkte über Umwege liefern. Im dritten Quartal 2022 importierte Russland Waren im Wert von mehr als einer Milliarde US-Dollar pro Monat und damit doppelt so viel wie im gleichen Quartal des Vorjahres. Laut Reuters sollen seit Kriegsbeginn elektronische Bauteile im Wert von mindestens 2,6 Milliarden US-Dollar nach Russland gelangt sein, mindestens 777 Millionen gehen auf Komponenten westlicher Firmen zurück. Der diplomatische Druck des zehnten Sanktionspakets könnte diese Schlupflöcher schliessen, denn er trifft auch die Drittstatten, welche die Sanktionen unterlaufen.
Was fast alle Sanktionen gemeinsam haben: Sie treffen die Zivilbevölkerung. Sei es, weil aufgrund von Preissteigerungen Grundlebensmittel teurer werden. Weil der Rückzug westlicher Unternehmen die Arbeitslosigkeit erhöht. Oder, weil wichtige Sicherheitsteile in Fahrzeugen fehlen: So soll der russische Autobauer Avtovaz, der unter anderem in den ehemaligen Fabriken von Renault produziert, seine Autos ohne ABS und Airbag vom Band laufen lassen.
Die EU hat deshalb von Beginn an sogenannte "Smart Sanctions" in ihre Pakete aufgenommen, die Privatpersonen wie Abgeordnete, Minister oder prominente Geschäftsleute ins Visier nehmen und nicht die gesamte Zivilbevölkerung treffen sollen. Reiseverbote zielen auf jene reichen Russen, die sich im Sommer vorzugsweise in ihren Luxusdomizilen an der Mittelmeerküste aufhalten. Und Vermögenssperren erschweren den Verkauf der von der russischen Elite geschätzten Immobilien in europäischen Metropolen. "Die Absicht dahinter ist, dass die sanktionierten Eliten – um wie früher nach Europa reisen und dort ihr Leben geniessen zu können – ihren Einfluss gegenüber Putin geltend machen, und versuchen, ihn von seinem Kurs abzubringen", sagt Klein. "Bisher aber ohne Erfolg. Denn nur sehr wenige Personen aus der russischen Elite haben sich gegen den Kriegskurs des russischen Präsidenten positioniert." Mit eingefrorenen Vermögen von 19 Milliarden Euro ist allein der Umfang dieser Massnahme überschaubar.
Sanktionen haben bislang keine Kehrtwende im Kreml herbeigeführt
Der Ökonom David Stadelmann von der Universität Bayreuth weist auf ein weiteres Problem im Zusammenhang mit personenbezogenen Sanktionen hin: "Reise- und Finanztransaktionsverbote machen die sanktionierten Oligarchen und Unterstützer des Regimes von diesem nur noch abhängiger. Sie können das Regime deshalb sogar stärken."
Dazu komme, dass Autokraten davon profitierten, wenn ihre Gefolgsleute nur erschwert ausreisen könnten, insbesondere wenn die Sanktionen breitere Teile des Landes treffen. "Das reduziert deren Zugang zu unabhängigen Informationsquellen und stärkt die Macht der Regimepropaganda."
In Brüssel ist man indessen zuversichtlich, dass das zehnte Sanktionspaket im zweiten Jahr des Krieges spürbar Wirkung entfalten wird. "Gemeinsam ziehen wir die Schlinge um Russland immer enger", sagte Ursula von der Leyen, als sie ihre neuesten Massnahmen vorstellte. Experte Stadelmann ist pessimistisch: "Bislang wurde Russland jedenfalls nicht 'ruiniert', der Krieg wurde nicht beendet und das Putin-Regime ist weiter an der Macht."
Verwendete Quellen:
- Europäische Kommission - Erklärung von Präsidentin von der Leyen zum 10. Sanktionspaket gegen Russland
- Center for Economic and Policy Research - The recession in Russia deepens. Evidence from an alternative tracker of domestic economic activity
- foreignaffairs.com: The Sanctions on Russia are working
- ft.com: Iran's 'ghost fleet' switches into Russian oil
- economist.com: Western Sanctions will eventually impair Russias Economy
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