Offenbar versucht Russland so weit wie möglich vorzudringen, solange die Ukraine noch auf Militärhilfen wartet. Vor allem in der Kleinstadt Tschassiw Jar, das zehn Kilometer westlich von Bachmut liegt, zeichnet sich eine schwere Schlacht ab. Angeblich will Russland die Stadt mit mehr als 20.000 Soldaten stürmen.

Eine Analyse
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Wenn eine Schlacht im Krieg in der Ukraine bereits eine eigene Wikipedia-Seite hat, hat dies schon etwas zu bedeuten. Der Kampf um die Kleinstadt Tschassiw Jar in der Donezk-Oblast hat nun eine.

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Noch immer warten die ukrainischen Streitkräfte auf lang versprochene Waffen und Munition aus dem Westen. Nachdem ein milliardenschweres militärisches Hilfspaket aus den USA beschlossen wurde und auch aus Europa weitere Waffen und Munition kommen sollen, zeichnet sich ab, dass Russland bis zum Eintreffen dieser Hilfen so weit vorzudringen versucht wie möglich. Ein Indikator dafür ist die derzeitige Schlacht um das Städtchen Tschassiw Jar, das ukrainischen Angaben zufolge bald mit 20.000 bis 25.000 russischen Soldaten gestürmt werden soll.

Tschassiw Jar hat strategische Bedeutung

Die Stadt liegt etwa zehn Kilometer westlich von Bachmut auf einer Anhöhe. In der längsten und blutigsten Schlacht in diesem Krieg, jener um Bachmut, diente Tschassiw Jar lange als Rückzugsort für ukrainische Soldaten. Hier gab es über Monate hinweg einen der wichtigsten Stabilisierungspunkte in der Region – ein Ort, an dem vor allem verletzte Soldaten erstversorgt wurden. Die Stadt war zudem die einzige Route, die Zivilisten noch nehmen konnten, als Bachmut im Januar 2023 bereits fast eingekesselt war.

Anders als die Stadt Bachmut, die im Grunde ein reines Prestige-Projekt Russlands war, hat Tschassiw Jar tatsächlich eine strategische Bedeutung. Durch ihre Lage auf einem Hügel ist jene Streitkraft im Vorteil, die sie hält. Zusätzlich bildet der östlich gelegene Kanal vor Tschassiw Jar eine interessante Funktion als Panzergraben, was den Verteidigern der Stadt einen bedeutenden Vorteil verschafft, wenn es darum geht, die Stellung zu halten.

Fällt Tschassiw Jar, stehen weitere wichtige Städte im Umkreis unter hohem Druck. Etwa zehn Kilometer südwestlich liegt die Stadt Kostjantinjiwka, die ebenfalls als Sammelpunkt ukrainischer Soldaten dient. Die Grossstadt Kramatorsk liegt nordwestlich von Tschassiw Jar und wäre mit 20 Kilometern Entfernung dann ebenfalls wieder in russischer Artilleriereichweite. Diese Städte, genauso wie die weiter nördlich gelegene Kleinstadt Slowjansk, dienen auch Hilfsorganisationen als Rückzugsort und bilden zudem das Zentrum der umkämpften Donezk-Region.

Russland will Tschassiw Jar bis 9. Mai einnehmen

Bereits am 14. April hatte der ukrainische Oberbefehlshaber Olexandr Syrskyj auf Telegram mitgeteilt, dass die russische Militärführung Tschassiw Jar wohl bis zum 9. Mai einnehmen will – dem Tag, an dem die Russen den sowjetischen Sieg über Hitlerdeutschland im Zweiten Weltkrieg feiern. Präsident Wolodymyr Selenskyj bestätigte diese Befürchtung in einem Interview mit dem Sender NBC am 21. April.

Allerdings wird sich das Zeitfenster, in dem die Ukraine weiter auf Waffen wartet, vermutlich bald schliessen – was es russischen Streitkräften erschweren dürfte, diese intensive Offensive bis zum 9. Mai durchzuhalten. Das bedeutet allerdings, dass man gerade jetzt die Anstrengungen erhöht. "Die russische Militärführung ist sich wahrscheinlich des sich schliessenden Zeitfensters bewusst, bevor weitere westliche Hilfe eintrifft, und versucht, offensive Erfolge zu sichern, bevor sich das Zeitfenster schliesst", hiess es etwa bei einem Twitter-Briefing des US-Thinktanks "Institute for the Study of War" (ISW).

Nachdem nun auch der US-Senat dem 61-Milliarden-Hilfspaket für die Ukraine zugestimmt hat, können die Waffen quasi binnen weniger Tage in der Ukraine ankommen. Wie die "Financial Times" schreibt, befindet sich ein Teil der Hilfen bereits in Polen und anderen europäischen Lagerplätzen.

Ukraine hat wohl Stellungen zurückerobert

Die ukrainischen Streitkräfte sollen zudem in den vergangenen Tagen verlorene Stellungen nahe Tschassiw Jar zurückerobert haben. Das geht aus dem aktuellen Lagebericht des ISW hervor. Geolokalisiertes Videomaterial weist demnach darauf hin, dass die Ukrainer östlich von Tschassiw Jar, beim Dorf Iwaniwske, vorgerückt sind.

Die russische Seite lässt indes verlauten, das Dorf Bohdaniwka (nordöstlich von Tschassiw Jar) bereits unter seiner Kontrolle zu haben. Bestätigen liess sich dies allerdings nicht. Laut ISW haben die russischen Streitkräfte noch keine bedeutenden taktischen Erfolge in der Nähe von Tschassiw Jar erzielt.

Dennoch bleibt die Lage äusserst angespannt. Laut Wolodymyr Tscherniak, einem Offizier der ukrainischen Nationalgarde, ist es dem russischen Militär gelungen, in der Gegend von Bohdaniwka Fuss zu fassen. "Sie haben alle möglichen Mittel dorthin gezogen und sich gut eingegraben", sagte er weiter. Dass das Dorf genommen wurde, stritt die ukrainische Seite allerdings ab.

In der Stadt selbst zeichnet sich derzeit ein Bild des Grauens ab. Laut dem "Wall Street Journal" gibt es quasi kein Haus, das nicht beschädigt oder zerstört ist. Die Ukrainer versuchen unterdessen die Stadt zu halten, vor allem so lange, bis sie die neuen Verteidigungslinien hinter Tschassiw Jar fertigstellt haben. Fällt die Stadt vorher, wird es immer schwerer und verlustreicher, die restlichen Städte zu verteidigen.

Verwendete Quellen

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