Die ukrainische Offensive im Süden kommt voran – minimal, aber in einem entscheidenden Punkt. Die Ortschaft Robotyne soll eingenommen worden sein, was Kiew einen entscheidenden Vorteil bringen könnte. Von einer weiteren Entscheidung Putins wird nun viel abhängen, sagt Militärexperte Gustav Gressel.
Der Tod von Wagner-Chef Prigoschin hat die Aufmerksamkeit weg vom Schlachtfeld gelenkt. Doch in der Ukraine toben weiter erbitterte Kämpfe. Jüngst meldet die Ukraine russische Angriffe auf mehrere Regionen im Süden, Osten und Nordosten des Landes – unter anderem in der Hauptstadt Kiew. Mindestens fünf Zivilisten sollten dabei getötet worden sein.
Militärexperte Gustav Gressel sagt: "Die Lage derzeit ist unübersichtlich." Russland habe seine Offensive im Osten, im Raum Kupjansk, nach einer kürzeren Pause wieder aufgenommen. So berichten Militärblogger beispielsweise von Angriffen auf die Dörfer Bahatyr und Kurachowe in der Region Donezk. Ebenso ist von erfolglosen Offensivaktionen in den Gebieten der Siedlungen Krasnohorivka und Marinka die Rede.
Generäle fürchten Putin
"Diese Offensive verzehrt kritische Reserven, die Russland eigentlich bräuchte, um im Süden die ukrainische Offensive abzuwehren", beobachtet Gressel. Die Angriffe führten zu erheblichen Verlusten an Militärpersonal, Waffen und gepanzerten Fahrzeugen.
Berichten zufolge halten Kiews Truppen weiterhin der russischen Offensive an den Fronten Kupjansk, Lyman und Bachmut stand. Für Gressel lässt das Bild nur einen Schluss zu: "Es wird vermutlich von Putin selbst befohlen, dass diese Offensive im Osten stattzufinden hat."
Denn nach Prigoschins Tod und der Verhaftung kritischer Generäle sei es unwahrscheinlich, dass militärische Kommandanten Putin Vorhaltungen machen oder ihm deutlich machen würden, dass die Offensive unsinnig ist.
Russland verlegt Elite-Kämpfer
"Deshalb wird sie auch vermutlich weiterlaufen", sagt Gressel. "Das könnte den Ukrainern Raum und Möglichkeiten geben, grössere Durchbrüche zu erzielen." Bis jetzt hätte Moskau vier Luftlande-Truppen aus diesem Raum abziehen müssen, um sie schubweise als Reserve nach Tokmak zu verlegen. "Es ist fraglich, ob das genug sein wird", sagt Gressel. Die Elite-Divisionen, die vom Osten in den Süden verlegt wurden, sind laut US-Denkfabrik Institute for the Study of War (ISW) Zeichen dafür, dass es dem russischen Militär an Reserven fehlt.
Die Einheiten, die in Moskaus Militärplanungen eine wichtige Rolle spielen, sind Beobachtern zufolge zu Beginn des Krieges enorm abgenutzt worden. Das hohe Einsatztempo soll sie stark geschwächt haben. "Die Schwächung dieser Kräfte wird wahrscheinlich Russlands Fähigkeit vermindern, komplexe defensive Operationen aufrechtzuerhalten und mit ziemlicher Sicherheit jede russische Absicht, offensive Operationen in grossem Umfang wieder aufzunehmen, zunichtemachen", lautet das Fazit im aktuellen ISW-Bericht.
Robotyne soll eingenommen sein
Ob die Russen mit diesen Einheiten dem möglichen Durchbruch der Ukrainer standhalten können, bezweifelt auch Gressel. "Die ukrainische Offensive geht voran, das Zentrum der Ortschaft Robotyne soll eingenommen sein", sagt er. Auch das nur fünf Kilometer entfernte Dorf Novoprokopivka ist umkämpft. "Ukrainische Kräfte versuchen nun, links und rechts und im Süden ihren Durchbruch zu erweitern."
Um den schmalen Vorstoss zu verbreitern, greifen die Ukrainer die Nachbarorte Kopani und Verbowe an. In beiden Ortschaften soll bereits gekämpft werden, die Ukrainer nutzen vermehrt Aufklärungsdrohnen und haben Artilleriefeuer sowie die Lufteinsätze verstärkt, um russische Verstärkungen und Stellungen anzugreifen.
Ukrainer erweitern Durchbruch
"Die Ukrainer erweitern ihren Durchbruch, um Raum zu schaffen für den Ansatz grösserer Kräfte, die dann versuchen, durch die zweite Verteidigungslinie der Russen zu stossen", sagt der Experte. Nach seiner Einschätzung könnte das in den nächsten Tagen und Wochen passieren.
"Russische Militärblogger melden weitere Verlegungen von ukrainischen Kräften in den Raum Robotyne. Wenn dem so ist, könnte es ein Anzeichen dafür sein, dass die Ukrainer wirklich planen, diesen Durchbruch auszuweiten", erklärt Gressel. So würden auch in Bachmut Kräfte rotiert, die eventuell in den Süden abgezogen würden, um die Durchbrüche besser nutzen zu können.
Einkesselung von Novoprokopivka
Beobachter gehen davon aus, dass Kiew eine Einkesselung von Novoprokopivka anstrebt. Die Intensität der Kämpfe wird als extrem hoch beschrieben, wobei sich die Ukrainer mit einem nicht enden wollenden Zustrom russischer Truppen konfrontiert sehen.
Offen bleibt die Frage, welche Tiefe die Ukrainer bei der Einnahme von Robotyne erreicht haben. "Je tiefer die Ukrainer in die russischen Stellungen eindringen, desto weniger Minenfelder gibt es", sagt Gressel. Die russischen Kräfte hätten sich für ihre Gegenangriffe Schneisen offengehalten, die die Ukrainer wiederum für ihre Angriffe nutzen könnten.
"Je tiefer man eindringt, desto besser wird die ukrainische Bewegungsfreiheit. Sie können dann besser manövrieren und grössere Kräfte zum Ansatz bringen", sagt der Experte. Die Frage sei aber, wie viele Reserven die Ukraine noch haben, um einen möglichen Durchbruch auszunutzen.
Putin muss eine Entscheidung treffen
Es stelle sich auch die Frage, wie viele Kräfte Russland noch generieren könne, um sie in den Raum zu werfen. "Die Russen haben jetzt noch rückwirkende Verteidigungslinien, mit der man ukrainische Vorstösse abwehren oder auffangen kann", erläutert Gressel.
Es sei aber entscheidend, wie viele Kräfte Putin freigeben wird. "Es fragt sich: 'Würde er seine Offensive im Nordosten abblasen, um den Süden zu halten?'", sagt Gressel und ergänzt: "Das ist eine offene Frage, die sehr schwer zu beantworten ist. Davon wird aber abhängen, ob die Russen die Kräfte haben werden, die Ukrainer aufzufangen - oder nicht."
Verwendete Quellen:
- Ukrainska Pravda: Ukrainian forces advance and gain ground near Novoprokopivka and Verbove
- ISW: Ukraine Conflict Updates
- Euromaidan Press: Frontline report: Ukrainian forces expand bridgehead, eyeing Novoprokopivka encirclement
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