• Der Krieg in der Ukraine hat eine gewaltige Flüchtlingsbewegung ausgelöst, die nicht so bald abreissen wird.
  • Zahlreiche Privatpersonen nehmen Geflüchtete in ihren Häusern und Wohnungen auf. Oft ist es ihr erster Kontakt mit traumatisierten Menschen.
  • Psychologin Léanne Bertz von der Johanniter-Unfall-Hilfe e.V. erklärt, was es im Umgang mit geflüchteten Erwachsenen und Kindern zu beachten gibt.

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Das Trauma zieht mit ein: Helfen mit Fingerspitzengefühl

Während in der Ukraine die Kämpfe toben, suchen täglich Geflüchtete Zuflucht in den Ländern der Europäischen Union und auch in Deutschland. Bei der Mehrzahl handelt es sich um Frauen und Kinder, oft schaffen es auch allein reisende Kinder über die Grenzen. Viele Menschen helfen, wo sie nur können und nehmen Geflüchtete bei sich zuhause auf. Doch der Umgang mit den Gästen kann sich als heikel entpuppen. Denn oftmals handelt es sich um traumatisierte Menschen. Der Alltag mit ihnen erfordert besondere Sensibilität und viel Fingerspitzengefühl.

Gute Kommunikation ist wie ein Spiegel

Der erste Schritt für eine gelungene Kommunikation mit Geflüchteten ist es, herauszufinden, wie belastet die Person, die man aufgenommen hat, ist. “Innerhalb der Ukraine waren die Menschen ganz unterschiedlich vom Krieg betroffen“, sagt Psychologin Léanne Bertz von der Hilfsorganisation Johanniter-Unfall-Hilfe e.V. Manche seien direkt mit Gewalt konfrontiert gewesen, andere hätten das Kriegsgeschehen vielleicht sehr intensiv in den Medien verfolgt, aber weniger persönliche Gewalt erlebt. Je belasteter, desto einfühlsamer und rücksichtsvoller sollte der Umgang sich gestalten. Generell ist es eine gute Strategie, abzuwarten, was die Person von sich aus zu erzählen bereit ist und darauf einzugehen. "Besser als direkt nach problematischen Erfahrungen zu fragen ist, dem Menschen den Raum und die Zeit zu geben, den er braucht", empfiehlt die Psychologin. Extrovertierte und Introvertierte gehen mehr oder weniger offen mit ihren Erfahrungen um. Dem beobachteten Verhalten könne man sich anpassen, indem man es spiegele.

Mit Verständnis reagieren

Und wenn jemand lieber schweigt? Dann lässt man das als Gastgeber getrost zu – und verzichtet auf Nachfragen. "Viele Geflüchtete haben im Krieg die schlimmsten Erfahrungen ihres bisherigen Lebens gemacht. Es ist nachvollziehbar, wenn sie nur wenig Lust haben, mit Menschen darüber zu sprechen, die sie gerade erst kennengelernt haben", gibt Bertz zu bedenken. Kommt die geflüchtete Person ins Erzählen, ist es wichtig, ihr zu signalisieren: Was du erlebt hast, ist schlimm. Deine Gefühle sind real und angemessen. "Betroffene erleben diese Form der Anteilnahme häufig als entlastend.“ Verzichten sollte man auf Aussagen mit aufmunterndem Charakter: “Wird schon wieder" oder "Nun bist du ja in Sicherheit" zum Beispiel. Neben der akuten Belastung setzt den Geflüchteten vielleicht die Sorge um im Kriegsgebiet zurückgelassene Familienmitglieder oder Freunde zu. Zu tun, als wäre nun alles in Ordnung wirkt dann unsensibel.

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Struktur in den Alltag bringen

Was schweigsame wie mitteilungsbereite Geflüchtete gemeinsam haben: Sie benötigen Ruhe und Stabilität. Ein vorhersehbarer Tagesablauf, der festen Ritualen folgt, ist dafür wichtig. "Geflüchtete Menschen haben erlebt, wie ihr Alltag und ihr gesamtes Leben vom einen Moment auf den nächsten zusammengebrochen ist", sagt Bertz. "Nicht zu wissen, was als Nächstes passiert ist eine unfassbare Belastung." Die Psychologin rät, seinen Gästen anzubieten, an den regelmässigen Mahlzeiten teilzunehmen oder den Abend gemeinsam im Wohnzimmer zu verbringen – und nicht enttäuscht zu sein, wenn man eine Absage bekommt. Gleichzeitig ist es wichtig, den Nachrichtenkonsum zu begrenzen. "Der ständige Beschuss mit belastenden Bildern, setzt den Menschen zu."

Kinder fühlen anders

Besonderes Augenmerk gilt dem Umgang mit Kindern. Zunächst sollte man den eigenen Kindern das Geschehen behutsam erklären. Am besten durch Parallelen ihrer persönlichen Lebenswirklichkeit. "Für Kinder ist Krieg etwas sehr Unverständliches. Aber Streit und Konflikte kennen sie auch, und sei es aus dem Sandkasten", sagt Léanne Bertz. Über ukrainische Kinder, die vielleicht neu in die Schulklasse kommen, würde die Psychologin erst sprechen, wenn der eigene Sohn und die Tochter ausdrücklich danach fragen. Ansonsten gilt: Geflüchteten Kindern sollte man natürlich, freundlich und auf Augenhöhe begegnen. Nonverbale Signale verstehen sie trotz Sprachbarrieren recht gut. Besondere Vorsicht müssen die eigenen Kinder nicht walten lassen. "Kinder haben sehr feine Antennen für das Gefühl nicht dazuzugehören. Das kann eine zusätzliche Belastung darstellen", erklärt die Expertin. "Kinder sind zwar eine besonders empfindliche Gruppe, gleichzeitig sind sie sehr anpassungsfähig und lernen auch neue Sprachen schneller."

Selbstfürsorge nicht vernachlässigen

Wer Geflüchtete aufgenommen hat und merkt, dass er sich der eigenen Belastungsgrenze nähert, darf das offen kommunizieren. Etwa mit dem Satz: "Dass ich nicht darüber sprechen will, bedeutet nicht, dass es mich nicht interessiert. Aber mir macht das auch zu schaffen." Es hat sich bewährt, im Alltag Inseln einzurichten. Ein täglicher kurzer Spaziergang etwa, dann können die Erwachsenen über die Kriegserlebnisse reden. Danach widmet man sich wieder bewusst anderen Themen. Ausserdem: Kleine Rituale wie ein regelmässiger Besuch auf dem Spielplatz mit den Kindern oder in der Eisdiele. Denn nur wer mental stark bleibt, kann anderen helfen.

Über die Expertin:
Léanne Bertz
ist Psychologin und Rettungssanitäterin. Als Fachlehrerin Rettungsdienst lehrt sie an der Johanniter-Akademie in Hannover unter anderem den Umgang mit Geflüchteten.
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