Der Militärökonom Marcus Keupp hat ausgerechnet, wie viele Panzer Russland jeden Tag verliert. Seine Prognose: Ende 2025 könnte der Krieg vorbei sein.

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Herr Keupp, Sie sind Militärökonom. Was ist das?

Das ist jemand, der ökonomische Modelle auf militärische Fragestellungen anwendet. Es gibt nicht viele Militärökonomen in Westeuropa. Nach meiner Zählung sind es fünf. Es ist also ein ziemliches Exotenfach. Ich interessiere mich für Technik und Logistik. Ich frage zum Beispiel, wie sehr man einem System den Nachschub abschneiden kann, bevor es Funktionsausfälle erleidet.

Und wie können uns Militärökonomen helfen, die Lage in der Ukraine einzuschätzen?

Indem sie den Krieg wegbringen vom Emotionalen und auf das Rationale zurückführen. Die deutsche Diskussion wird extrem emotional geführt. Was ich anbieten kann, sind rationale Analyse und Fakten.

Die Fakten werden in Kriegen meist geheim gehalten. Woher wissen Sie zum Beispiel, wie viele Panzer Russland pro Tag verliert und wie viele es noch hat?

Es gibt Analysten, die sammeln Fotos von zerstörten Panzern in der Ukraine, bestimmen anhand von den in der Bild-Datei gespeicherten GPS-Daten den Ort der Aufnahme und erstellen Karten, wann welches System wie stark zerstört wurde. Andere erstellen aus diesen Bildbeweisen Statistiken über die Abnutzungsrate der russischen Armee. Wieder andere werten Satellitenfotos von russischen Armeelagern aus, wo alte Panzer gelagert werden. Dort sehen sie, wie viele Geräte Russland noch hat, und anhand der Produktionskapazitäten in den Rüstungsbetrieben kann man schätzen, wie schnell sie instand gesetzt und in die Ukraine gebracht werden können.

Sie sprechen hier nicht von Geheimdienstmitarbeitern, sondern von Freiwilligen, die das als Hobby machen?

Genau, man nennt das Open Source Intelligence, also eine nachrichtendienstliche Schwarmintelligenz, wenn Sie wollen. Die schafft Möglichkeiten, die früher nur Geheimdienste hatten. Teilweise sitzen Leute in Russland, die filmen brennende Raffinerien. Es gibt Zivilisten in der Ukraine, die Fotos von Panzern posten. Andere sind Profis, sie werten für Denkfabriken Satellitenfotos aus. Es ist eine bunte Mischung. Im Ergebnis haben wir eine Echtzeitanalyse des Krieges mit einer Verzögerung von zwölf bis 72 Stunden.

Wie schliessen Sie aus, dass die Putin-Hasser unter diesen Freiwilligen das Lagebild verzerren?

Ganz einfach, indem ich beide Seiten betrachte. Ich lese russische wie auch ukrainische Militärblogger auf Telegram. Die offiziellen Verlautbarungen der Armeen schaue ich mir weniger an, das ist besonders von russischer Seite oft ein Comedy-Programm. Da heisst es dann: Wieder zwölf Himars-Artilleriesysteme zerstört. Das sind Lügen. Auch die ukrainischen Angaben sind manchmal geschönt. Lieber schaue ich mir an, was objektiv belegt ist. Wenn ein Panzer explodiert und ein Satellit fliegt drüber und fotografiert das, ist es schwer, dagegen zu argumentieren. Natürlich können Sie nicht ausschliessen, dass Leute versuchen, Propaganda zu machen, aber in der Vielzahl der Quellen geht das unter.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.F.A.S. jetzt lesen

Was machen Sie dann mit den Zahlen?

Ich kann damit zum Beispiel die Abnutzungsrate bestimmen. Es gibt einen Blog namens Oryx, dort werden zerstörte Systeme gezählt, aber nur, wenn es einen Bildbeweis gibt. Mittlerweile sind wir bei mehr als 3000 Panzern seit Kriegsbeginn und bei mehr als 16.000 mechanisierten Systemen. Das ist eine Verlustrate von vier Panzern pro Tag. Jetzt können Sie sich überlegen: Wie lange hält Russland das durch?

Und?

Nicht ewig. Leute, die sich mit den Produktionskapazitäten beschäftigen, sagen, dass Russland zwischen 300 und 500 Panzer pro Jahr neu bauen kann. Wenn sie aber vier pro Tag verlieren, merken Sie, das kommt nicht hin.

Das ersetzt nicht mal ein Drittel.

Genau, also ist die Frage: Woher nimmt Russland die Differenz? Dann schauen Sie auf die Satellitenfotos und stellen plötzlich fest, dass sich die alten sowjetischen Militärlager mit massiver Geschwindigkeit leeren.

Dort stehen alte sowjetische Panzer einfach unter freiem Himmel herum?

Auch, oft sind es aber ausgebaute militärische Lagerstätten mit Reparaturbetrieben, wo das Material über Jahrzehnte eingelagert wurde und jetzt reaktiviert wird. Die Satelliten sehen die Bewegungen in diesen Lagern, in einem russischen Lager nahe der finnischen Grenze wurde mittlerweile fast alles abgezogen. Das passiert gerade überall in Russland, auch in Sibirien. Und Sie merken jetzt, wie dieser Krieg geführt wird. Russland lebt von seinen Reserven. Es steht quasi auf den toten Beinen der Sowjetunion. Und es verbrennt Material, das in der Sowjetzeit produziert wurde, alte T62- oder T72-Panzer. Es kommt immer älteres und schlechteres Material auf das Kampffeld. Die russische Rüstungsindustrie hingegen ist ein unglaublich korruptes und ineffizientes Konglomerat. Das kann schon produzieren, aber nicht in dieser Geschwindigkeit und Intensität, die benötigt würde, um den Krieg in seiner jetzigen Form aufrechtzuerhalten. Das heisst: Die Zeit läuft gegen Russland.

Spürt man das schon am Kriegsverlauf?

Die ursprüngliche Invasionsarmee von 2022 ist materiell und personell vernichtet. Damals hat Russland das Gefecht der verbundenen Waffen probiert, so kämpfen sonst NATO-Staaten, es gab koordinierte Angriffe aus der Luft, von Land, zur See. Das ist gescheitert, weil die russischen Soldaten es nicht trainiert hatten. Seitdem geht es für Russland bergab. Der Krieg folgt nicht wirklich einer Strategie, er ist eigentlich eine Dauerimprovisation. Früher wurde über Russland immer gesagt, es hätte die Eskalationsdominanz, das heisst, es bestimme, wann wie schwer gekämpft wird. Ich spreche in diesem Krieg lieber von einer Eskalationsdominanz nach unten. Es gibt Videos, wie russische Infanteristen auf Motorrädern, Quad Bikes und Golf Carts vorrücken, ohne jede Panzerung. Eine Armee, die so vorgeht, hat ein Problem.

"Putin hat das gleiche Problem wie Hitler."

Marcus Keupp, Militärökonom

Wann kollabiert der russische Nachschub?

Man muss bei solchen Prognosen vorsichtig sein. Sie sind mit grosser Unschärfe behaftet. Es gibt dazu verschiedene Schätzungen, die reichen von Ende 2025 bis Mitte 2027. Das ist das rechnerische Ende, dann sind die Lager leer. Aber Russland wird sich vorher schon anpassen müssen, weil eine so intensive Verlustrate eine Kampfführung wie bisher nicht mehr zulässt. Russland könnte seine offensiven Aktionen abbrechen, sich eingraben und zur Verteidigung übergehen oder verbleibende Panzer als Ersatzartillerie verwenden. Oder es entstehen Löcher in der Front, weil die Ausfälle nicht mehr ersetzt werden können. Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel, vor Uroschajne nahe Saporischschja, wo die Russen seit Monaten versuchen durchzukommen, haben sie schon mehr als 800 Fahrzeuge verloren. Da fahren jeden Tag zwei, drei Fahrzeuge vor, um irgendwelche Infanterie nach vorne zu bringen, werden abgeschossen, bleiben liegen, und am nächsten Tag das Gleiche wieder und dann wieder. Sie merken: Diese Art von Kriegsführung ist nicht nachhaltig. Putin hat das gleiche Problem wie Hitler. Seine Ressourcen schmelzen ab, er steht im Gelände und kommt nicht weiter. Der Westen aber produziert jetzt laufend und auf höherem Niveau und unterstützt die Ukraine weiter. Gegen Ende 2024, Anfang 2025, müssten wir langsam merken, dass sich das Kräftegleichgewicht verschiebt, wenn die Abnutzungsrate bei den Russen so hoch bleibt und die Ukraine weiter kontinuierliche Unterstützung erhält. Ab dann bekommt Russland Probleme.

Manche sagen, man sollte Russland nicht unterschätzen. Grösster Flächenstaat der Erde, hohe Einnahmen aus Öl und Gas, Technik aus China, Artilleriemunition aus Nordkorea.

Entschuldigen Sie, aber diese Pseudoargumente sind mir alle seit Langem bekannt. Warum hat Russland den Krieg dann nicht schon längst gewonnen, wenn es doch so gross und mächtig ist? Zu Beginn des Krieges hatte Russland ideale Voraussetzungen, gefüllte Lager, keine Sanktionen, riesige finanzielle Reserven. Und was ist passiert? Ja, sie kriegen Munition aus Nordkorea, aber nicht in kriegsentscheidendem Umfang. Ja, sie kriegen Drohnen aus Iran, aber achtzig Prozent davon werden abgeschossen. Ja, China liefert ihnen Golf Carts vom Typ Desertcross 1000, aber keine schweren Waffen. Der Ölpreis ist hoch, aber Russland verkauft weniger Volumen, weil es das gesamte westliche Ölgeschäft verloren hat. An China und Indien verkaufen sie nur mit grossem Abschlag. Der Nettopreis für Öl liegt nur knapp über den Produktionskosten. Die Differenz wird von einem nationalen Wohlfahrtsfonds abgedeckt, und der ist schon von 200 Milliarden Dollar auf 50 Milliarden abgeschmolzen. In Deutschland gibt es immer diese Traumbilder von Russland: das Märchen vom Land der unendlichen Ressourcen. In anderen Ländern ist das nicht so, da wird Russland realistischer gesehen.

Interessanterweise geht die Überhöhung Russlands oft mit einer Unterschätzung der Ukraine einher.

Das stimmt. Die Ukraine ist nach Frankreich der zweitgrösste Flächenstaat Europas, aber nur, wenn Sie alle französischen Überseegebiete mitzählen. Es gibt Milieus in Deutschland, in denen gelten Deutschland und Russland als Ordnungsmächte Europas, zwischen denen eine unklare und illegitime Zwischenmasse von osteuropäischen Staaten liegt. Diese werden gegenüber der deutsch-russischen Entente als Störenfriede empfunden und sollen deshalb diszipliniert werden. Sie können dieses Gedankengut bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen.

Sie sagen, dass Russland mit der Zeit schwächer wird, aber was ist mit der Ukraine? Was passiert, wenn Donald Trump und Marine Le Pen gewählt werden und Deutschland vom Bundestagswahlkampf gelähmt wird?

Das ist die letzte Hoffnung für Putin. Ohne westliche Hilfe ist die Ukraine nicht kampffähig. Man muss aber daran erinnern, dass es Barack Obama war, der 2014 gegen die Aufrüstung der Ukraine war. Und es war die Trump-Regierung, die die Ukraine zwischen 2016 und 2018 mit Javelin-Flugabwehrraketen und NLAW-Panzerabwehrraketen ausgestattet hat, obwohl Trump selbst anfangs zögerlich war. Wir wissen also nicht, ob Trump, wenn er an der Macht ist, den Schalter umlegt und die Ukraine-Hilfe beendet.

Ein Argument lautet, dass eine Atommacht wie Russland vielleicht nicht gewinnen, aber auch nicht verlieren kann. Denn dann käme die nukleare Verzweiflungstat.

Das ist eine weitere Angsterzählung, der die Faktenbasis fehlt. Selbstverständlich kann man Atommächte konventionell besiegen, und Atommächte sind auch schon besiegt worden, die Vereinigten Staaten in Vietnam und Afghanistan, die Sowjetunion ebenfalls in Afghanistan. Russlands Nukleardoktrin ist defensiv. Anders als die Vereinigten Staaten, die in ihrer Doktrin bewusst unscharf sind und sich alle Mittel vorbehalten, hat Russland kommuniziert, Atomwaffen nur dann einzusetzen, wenn seine innere Staatlichkeit bedroht ist. Und diese ist nicht bedroht. Russland führt einen Angriffskrieg, keinen Verteidigungskrieg. Ich sehe das Risiko bei Russland nicht. Ich glaube auch nicht, dass China das tolerieren könnte. Man sieht auch auf Satellitenbildern keine Fakten, die darauf hindeuten. Es wurden den ganzen Kriegsverlauf über niemals Gefechtsköpfe mit Trägersystemen zusammengeführt.

Wenn das alles stimmt, was Sie über Russlands Schwäche sagen, warum müssen wir uns dann um das Baltikum sorgen? Russland kann jetzt keine zweite Front eröffnen und wäre selbst nach dem Ukrainekrieg über Jahre nicht kriegsfähig.

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Nehmen Sie an, der Krieg endet noch in diesem Jahr. Dann sinkt die Abnutzungsrate auf null und ein offen ultranationalistisches Russland, das sich als Gegenmodell zur westlich-liberalen Welt versteht, produziert bis zu 500 Kampfpanzer im Jahr. Dann baut sich in zehn Jahren eine Streitmacht auf, der Europa nichts entgegenzusetzen hat. Dann müssen wir davon ausgehen, dass im Baltikum oder an der polnisch-weissrussischen Grenze wieder 5000 Panzer aufmarschieren können. Das ist das Szenario, auf das man sich vorbereiten muss. So weit hergeholt ist das nicht.

Im März 2023 haben Sie mal gesagt, Russland werde den Krieg im Oktober verloren haben. Jetzt haben wir Mitte 2024, und der Krieg läuft immer noch. Haben Sie sich also geirrt?

Ich hatte damals von der einsatzfähigen Reserve gesprochen. Sprich: Von den 3000 Panzern, mit denen Russland in den Kampf gegangen ist. Die sind mittlerweile weg. Insofern stimmte meine Prognose. Dann hat Russland begonnen, aus seinen Lagern zu schöpfen, und diese Lager sind umfangreicher, als ich ursprünglich gedacht habe. Ich war also in mancher Hinsicht zu optimistisch. Ich bin auch nicht davon ausgegangen, dass der Westen seine Hilfen verzögert. Hätte man der Ukraine schon 2022 und 2023 entschlossen geholfen, wären viele Probleme nicht entstanden. Die russischen Truppen hätten sich zum Beispiel nicht eingraben können. Es wird sicher länger dauern, als ich damals prognostiziert habe. Aber dass Russland diesen Krieg verlieren wird, davon bin ich nach wie vor überzeugt.  © Frankfurter Allgemeine Zeitung

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