Die Rede von SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich schlug hohe Wellen. Er forderte das Einfrieren des Krieges in der Ukraine und Verhandlungen mit Russland. Neu sind solche Vorschläge nicht. Doch wie reagieren Betroffene auf solche Aussagen? In Antworten, die wir von Ukrainern bekamen, fielen Begriffe wie "Verrat", "Irrtum" und "Völkermord".
Für SPD-Fraktionschef
Neu sind solche Forderungen nicht. Auch der Philosoph Jürgen Habermas oder die Politikerin Sahra Wagenknecht (BSW, damals noch Linke) forderten bereits 2023 Waffenruhen und damit einhergehende Verhandlungen mit dem Aggressor Russland.
Immer wieder fallen Politikerinnen und Politiker oder andere Personen des öffentlichen Lebens durch solche Forderungen auf. Expertinnen und Experten zeichnen allerdings ein anderes Bild. Etwa der Historiker Jörn Leonard. 2023 veröffentlichte dieser das Buch "Über Kriege und wie man sie beendet". Im Interview mit "ZDF Heute" sagte er: "Es ist eine wichtige Lehre aus der Geschichte, dass man Aggressoren nicht mit einseitigen Konzessionen stoppt."
Wie aber reagieren Ukrainerinnen und Ukrainer auf Forderungen nach Verhandlungen? Wir haben nachgefragt.
Verhandlungen mit Russland? "Ein schrecklicher Irrtum"
"Den Krieg einzufrieren bedeutet nicht, ihn zu beenden", erklärt der Soldat Roma auf Anfrage unserer Redaktion. Seinen vollen Namen dürfen wir nicht nennen, denn Soldaten ist es nicht gestattet, sich politisch zu äussern. Doch wenn Roma, der für die Ukraine kämpft, hört, was sich Politiker in sicheren Ländern vorstellen, dann ist er – gelinde gesagt – irritiert.
"Es ist absurd zu glauben, dass ein solcher Schritt zum Frieden führen würde", erklärt er. Zum jetzigen Zeitpunkt seien Verhandlungen, sei eine Waffenruhe nur für einen von Vorteil: Putin. "Die Russen werden Kräfte sammeln können, um später wieder anzugreifen. Jeder vernünftig denkende Mensch weiss das." Er richtet seine Worte auch direkt an SPD-Politiker Mützenich. "Vermutlich sehen Sie in Verhandlungen einen Vorteil für Deutschland, aber ich verstehe nicht, worin dieser Vorteil bestehen soll. An Verhandlungen zu glauben - das ist ein schrecklicher Irrtum."
Führende Politiker der Welt sollten laut des ukrainischen Soldaten erkennen: "Kein klardenkender Mensch in der Ukraine wird einer Beendigung des Krieges zustimmen. Das ist eine Tatsache. Nur die Kapitulation Russlands und die Übernahme der Verantwortung für all seine Verbrechen sind akzeptabel." Eine andere Option, meint Roma, wird es nicht geben.
Eine weitere Soldatin, die ihren Namen nicht veröffentlichen möchte (Name der Redaktion bekannt), reagiert mit grosser Wut – und Sarkasmus. "Der Mangel an Waffen aus der EU tötet meine Nation", sagt sie. Die junge Frau hatte zu Beginn des Krieges zunächst als Freiwillige in der Nähe der Front gearbeitet und Spenden zu den militärischen Einheiten gebracht. Autos, medizinische Güter, Winterausrüstung. Nun hat sie sich freiwillig gemeldet, arbeitet als Sanitäterin direkt an der Front.
Sie sieht jeden Tag, was dieser Krieg anrichtet. An eine Waffenruhe sei nicht zu denken. Sie geht eher auf andere Probleme ein: "Fehlendes Geld, fehlende Unterstützung, das ist ein verdammter Völkermord." Sarkastisch fügt sie hinzu: "Aber natürlich schuldet uns niemand etwas, es ist unser eigenes verdammtes Problem."
Die Ukraine als Mauer zwischen Europa und Russland
Mikhail Puryshev ist ukrainischer Geschäftsmann und Freiwilliger im Frontgebiet. International bekannt wurde er, weil er einer der letzten Freiwilligen war, die in die damals heftig umkämpfte Stadt Mariupol gingen, um Menschen zu helfen und das Gebiet zu evakuieren. Später baute er in Bachmut ein humanitäres Hilfszentrum auf, bohrte tief in den Boden, um an Grundwasser heranzukommen, damit die Menschen dort zumindest duschen und ihre Wäsche waschen konnten.
Nun ist er in Cherson, das nach seiner Befreiung weiterhin unter ständigem Beschuss steht. Forderungen nach Verhandlungen, die aus Deutschland oder anderen Ländern kommen, bezeichnet er als Verrat. "Nehmen wir an, die Ukraine und Russland kämpfen nicht mehr – und die Ukraine muss gezwungenermassen mit Russland zusammenarbeiten, weil unser Land eingenommen wurde: Welches Land würde dann, hypothetisch gesehen, angegriffen werden?"
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Die Ukraine sei derzeit die Mauer zwischen Europa und Russland. "Wir sind die Einzigen, die die Russen aufhalten. Wenn es uns nicht gäbe, würde es als Nächstes einen Krieg mit Europa geben." Putin, sagt der Ukrainer, würde Polen und Deutschland angreifen. "Und sie würden leiden. Wir verteidigen also nicht nur unsere Grenzen, sondern auch ihre Grenzen." Wenn Russland an die polnische oder deutsche Grenze herankomme, hätte man dort ständig Luftalarm. "Dann müssten sich Ihre Kinder in den Kellern verstecken."
Wenn also irgendwer im sicheren Deutschland meine, ein Ende der Kampfhandlungen zu fordern, fährt Puryshev fort, sollte sich dieser die Frage stellen: Wie kann man so eine Person wie Putin stoppen? "Er verhält sich wie ein Kind. Jemand hat ihn gekränkt und deshalb ist er beleidigt – und er ist nachtragend. Er wird nicht aufhören, es ständig wieder versuchen. Er begreift nicht einmal, dass er einen Völkermord begeht. Und dass er Menschen tötet, ist ihm egal. Sein Ego wurde verletzt – das ist alles, was für ihn zählt. Mit einer solchen Person zu verhandeln ist einfach unmöglich."
Dima Omelchenko kommt aus Dnipro im Osten der Ukraine und ist dort in einer Kirchengemeinde aktiv. Er sagt: "Für viele Ukrainer ist dies eine schmerzhafte Frage." Auf der einen Seite habe der Krieg schreckliche Verluste gebracht: das Leben geliebter Menschen, zerstörte Städte und besetzte Gebiete, den wirtschaftlichen Zusammenbruch, die Flüchtlingskrise innerhalb des Landes und den Verlust von Millionen von Menschen, die das Land verlassen haben. "Und wir wollen nicht noch mehr Leben, noch mehr Väter und Ehemänner verlieren!"
Auf der anderen Seite habe sein Land bereits enorme Anstrengungen unternommen und einen hohen Preis gezahlt, um Russland zurückzuhalten. Wenn es einen Waffenstillstand gebe, meint er, wird das nicht lange anhalten. Er fragt: "Was wird uns das im Gegenzug bringen? Sollen wir unser Land für immer zu verlassen? Den Preis, den wir bezahlt haben, damit komplett abwerten? Den Russen Zeit geben, tiefer zu wurzeln und stärker zu werden? Und: Was ist dann?"
Europäer hätten keine Vorstellung vom Alltag in der Ukraine
Valeria Tsikava lebt weit im Westen der Ukraine, in der Nähe der ungarischen Grenze. Doch auch sie ist vom Krieg betroffen. Tsikava ist Lehrerin und Umweltaktivistin. Der Vorsitzende ihres Vereins kam im Mai 2023 als Soldat in der Saporischschja-Region ums Leben, als er Verwundete evakuierte. Der Umweltverein sieht sich als grosse Familie, sagt sie. Sie waren eng befreundet. Die Trauer um Roman trifft sie noch heute heftig, wenn sie über ihn spricht.
Und sie sagt: "Menschen in Europa können sich nicht vorstellen, was wir durchmachen müssen." Selbst dort, wo sie wohne - wo es 2023 nur einen Raketenangriff auf das Elektrizitätswerk gegeben hatte - sei es sehr schwer. Auch weit im Westen gebe es fast täglich Luftalarm. "Unsere Kinder sind verängstigt, wir haben Stress." Und dabei gehe es nicht nur um Raketen. Es gehe um hohe Preise, die Stromkrise. "Letztes Jahr hatten wir zwei Monate lang keinen Strom. Ich habe meinen Unterricht mit einer Taschenlampe gehalten."
Doch sie sagt: "Wir machen trotzdem weiter!" Würden die Ukraine und Russland sich zusammensetzen und verhandeln, meint sie, gäbe es keine Garantien, dass der Aggressor diesen Krieg nicht nach ein paar Jahren wieder starte. "Sie haben bereits Gebiete im Osten des Landes erobert – und das trotz Verhandlungen, trotz Waffenstillstand: Sie haben nicht aufgehört. Sie haben bereits versucht, Kiew einzunehmen – und sie werden es wieder tun."
Tsikava ist der festen Überzeugung, dass Russland die gesamte Ukraine erobern will. Sie meint: "Wir müssen kämpfen. Wir müssen siegen."
Die Menschen in Europa dächten noch immer, dass dies nur der Krieg der Ukraine sei. "Aber in Wahrheit ist es auch euer Krieg. Es ist der Krieg von ganz Europa. Für Russland ist die Ukraine nur das Tor nach Europa. Und wir Ukrainer – wir halten dieses Tor geschlossen."
Verwendete Quellen
- Anfragen bei Mikhail Puryshev, Dima Omelchenko, Soldat Roma und weiterer Soldatin sowie Umweltaktivistin Valeria Tsikava
- bundestag.de: Rede von Ralf Mützenich
- ardmediathek.de: Lars Klingbeil bei Caren Miosga
- sueddeutsche.de: Jürgen Habermas über die Ukraine: Ein Plädoyer für Verhandlungen
- change.org: Manifest für Frieden
- zdf.de: Interview Jörn Leonard bei "ZDF Heute"
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