Seit Beginn des Angriffskrieges auf die Ukraine sind laut Schätzungen etwa 40 russische Oligarchen auf mehr oder weniger mysteriöse Art und Weise ums Leben gekommen. Was steckt hinter den Todesfällen? Fabian Burkhardt vom Leibniz-Institut für Ost-und Südosteuropaforschung erläutert, welche Erklärungen es für ihr Ableben gibt.
Vor über einem Jahr begann der russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Seither häufen sich zwischen all den stetigen Meldungen über Frontverläufe und Kriegshandlungen die Nachrichten über Todesfälle unter russischen Wirtschaftsmagnaten oder Top-Managern. Diese kamen oft unter mysteriösen oder zumindest ungeklärten Umständen ums Leben.
Das ist zunächst verwunderlich: Putin profitiert von den Oligarchen, ihren Kontakten und Ressourcen. So stellen sie oftmals Rohstoffe für die Kriegswirtschaft oder betreiben Geldwäsche für das Regime. Sie gelten als wichtige Machtgruppe neben dem Geheimdienst oder dem Militär und tragen wesentlich zur Stabilisierung des Regimes bei.
Während der Focus sich auf Schätzungen von Experten beruft und von etwa 40 hochrangigen Oligarchen schreibt, die ihr Leben verloren haben, weist Fabian Burkhardt vom Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung im Gespräch mit unserer Redaktion darauf hin, dass schon der Begriff "Oligarch" eigentlich irreführend sei.
"Oligarchen sind ein Phänomen der 1990er-Jahre. Es gibt so gut wie keine mehr, weil mit Putins Aufstieg die Einschränkung ihrer Macht einherging. Sprechen wir von Oligarchen, meinen wir derart vermögende Milliardäre, die auf der Forbes-Liste auftauchen. Das sind Menschen, die wichtige Wirtschaftszweige kontrollieren und versuchen, Einfluss auf die Politik zu nehmen. Doch der Staat hat in den letzten Jahren viel mehr Kontrolle über die Wirtschaft erlangt, sodass es zwar noch viele Milliardäre gibt; aber die haben, das hat auch der Krieg gegen die Ukraine gezeigt, kaum mehr Einfluss auf die Politik", erklärt der Russland-Experte.
Russland-Experte Burkhardt: Keine kausale Verbindung zu Putin bei Todesfällen
Er spreche daher eher von "Wirtschaftsmagnaten" oder einfach "reichen Russen", um keine falschen Assoziationen auszulösen. "Wenn man die Liste der Leute, die gestorben sind, durchgeht, sieht man: Das sind alles eher drittrangige Figuren und maximal ehemalige Oligarchen in spezifischen Wirtschaftszweigen, die keine Bedeutung mehr haben", sagt Burkhardt.
Die gestorbenen Wirtschaftsmagnaten sind also allesamt gar nicht zur Riege der Oligarchen zu zählen und haben weit weniger Einfluss auf die Politik, als es der Begriff "Oligarch" vermuten liesse. "Allein aus diesem Grund halte ich es für falsch, eine kausale Verbindung zu Putin herstellen zu wollen", stellt Burkhardt klar. Eine Parallelisierung der Todesfälle der etwa 40 Top-Manager und Wirtschaftsmagnaten, wie sie beispielsweise die englische Sun vorgenommen hat, ist daher ebenfalls irreführend.
Tote russische Top-Manager: Offenbar keine Hinweise auf "kriminellen Tod"
Zuletzt war Anfang April 2023 der Manager Igor Shkurko, stellvertretender Generaldirektor des russischen Energieunternehmens Yakutskenergo, tot in einem russischen Gefängnis gefunden worden. Wie unter anderem die englische Daily Mail berichtet, war er vor seinem Tod beschuldigt worden, Bestechungsgelder angenommen zu haben. Die russischen Behörden erklärten derweil laut Yakutia Daily, dass es keinen Hinweis auf einen "kriminellen Tod" gebe.
Im April 2022 waren derweil kurz nacheinander in ähnlichen Fällen der ehemalige Gazprombank-Vizechef Vladislav Avayev und der Ex-Novatek-Vize Sergey Protosenya tot aufgefunden worden. In beiden Fällen geht die Polizei laut Spiegel davon aus, dass die beiden Ex-Manager zunächst ihre Frauen und Kinder und danach sich selbst getötet haben. Avayevs Fall ereignete sich in Moskau, während Protosenya im spanischen Lloret de Mar gefunden wurde.
Nicht hinter jedem fragwürdigen Tod steht ein Mordkommando Putins
Der Russland-Experte Burkhardt warnt trotz auffälliger Parallelen aber vor zu schnellen Schlüssen auf Putin: "Auch unterhalb Putins gibt es gegenseitige Kämpfe innerhalb der russischen Elite um Ressourcen, Einfluss und Macht. Gerade seit dem russischen Angriffskrieg haben diese extrem zugenommen. Nicht hinter jedem fragwürdigen Tod muss der Militärgeheimdienst oder ein Mordkommando Putins stehen."
So sei beispielsweise der Fall des laut Forbes reichsten Duma-Abgeordneten, Pawel Antow, der im Dezember 2022 bei einer Urlaubsreise in Indien aus dem Fenster gestürzt war, vermutlich auf übermässigen Alkoholkonsum zurückzuführen und nicht auf veröffentlichte Privatchats, in denen Antow den Krieg in der Ukraine kritisiert hatte. "Teilweise haben die Menschen, die gestorben sind, auch ein gewisses Alter und Erscheinungen wie Herzinfarkte oder Schlaganfälle werden einfach wahrscheinlicher", so Burkhardt.
Im September 2022 war beispielsweise der 68-jährige Wladimir Sungorkin an einem Schlaganfall gestorben. Das berichtet laut Redaktionsnetzwerk Deutschland die kremltreue Zeitung Komsomolskaja Prawda, deren Chefredakteur Sungorkin war. "Die Erwartung unter Russland-Experten ist zwar schon, dass Putin, der auch genau im Blick hat, wie die Elite auf den Krieg reagiert, diese einschüchtert und zumindest rhetorisch absolute Loyalität erwartet. Der Konsens der Beobachtungen ist aber auch: Bislang ist die grosse Welle von Repressionen oder demonstrativen Morden ausgeblieben", erklärt Burkhardt.
Russland-Experte: Russland hat zu wenig Ressourcen, um ständig politische Morde zu begehen
Das alles bedeute aber natürlich nicht, dass es gar keine politischen Morde gebe. "Allerdings wissen wir aus westlichen Geheimdienstquellen – bekannte Fälle waren Alexey Nawalny oder Sergei Skripal –, wie viele Ressourcen solche Morde erfordern. Da war der russische Geheimdienst involviert, es brauchte eine extrem durchdachte Koordination und die Involvierung vieler Ebenen des russischen Staates. So viele Ressourcen hat Russland aber nicht, um ständig politische Morde zu begehen. Von daher noch einmal: Derartige Morde können auch auf unteren Ebenen geplant werden."
Dennoch gebe es natürlich auch Fälle, in denen Skepsis angebracht sei und man fragen könne, ob sich eine tiefergehende Recherche nicht lohnen würde. Zu den interessanten Fällen gehören dabei laut Burkhardt die Tode im Umfeld der wichtigen Unternehmen im Energiebereich, Gazprom und Lukoil. "Alles, was sich in diesem Umfeld abspielt, kann systemische Funktion haben und für Russland als Staat wichtig ein", so der Experte.
Dazu gehört einer der skurrilsten und makabersten Fälle: Alexander Subbotin, ehemaliger Manager des russischen Mineralölkonzerns Lukoil. Die russische Nachrichtenagentur Tass berichtet, das frühere Vorstandsmitglied des Konzerns soll beim Besuch eines Schamanen-Paars in einer Stadt nordöstlich von Moskau gestorben sein. Angeblich soll es bei der Behandlung durch die Schamanen um Subbotins Alkoholsucht gegangen sein. "Subbotin ist zwar ein besonders makabrer Fall, aber eigentlich hatte er bei Lukoil eine eher geringe Bedeutung und stand eher in der zweiten oder dritten Reihe", stellt Burkhardt dazu aber klar.
Tod nach Sturz aus Fenster: Verteilungskämpfe bei Energie-Gigant
Aber auch der Fall von Rawil Maganow, der beim Rauchen aus dem Fenster eines Krankenhauses gefallen sein soll, steht im Kontext von Lukoil und ist bislang nicht aufgeklärt. "Nachdem die beiden Mitgründer Leonid Fedun und Wagit Alekperow nach westlichen Sanktionen zurückgetreten waren, hatte Maganow die zwischenzeitliche Führung des Unternehmens übernommen. Zuvor, als die beiden die Kontrolle noch innegehabt hatten, hatte die Website von Lukoil eine Erklärung veröffentlicht, die Kritik am russischen Krieg in der Ukraine beinhaltete."
Im Anschluss wurde dann der Tod von Maganow als Racheakt am Unternehmen und als durch das Regime statuiertes Exempel aufgrund der geäusserten Kritik interpretiert. "Seither gab es leider keine investigativen Recherchen. Aber bislang lautet die für mich plausibelste Erklärung, den Tod auf Verteilungskämpfe bei Lukoil zurückzuführen. Das Abtreten der Führungspersonen, die drei Jahrzehnte an der Spitze standen, hat wohl zu einem Verteilungskampf geführt", mutmasst der Russland-Experte.
Der erste Todesfall im Umfeld von Gazprom datiert dabei bereits auf den Januar 2022, als der ehemalige Gazprom-Manager Leonid Shulman tot in seinem Badezimmer aufgefunden wurde. Aufgrund des bei ihm gefundenen Abschiedsbriefs gehen die Behörden von Selbstmord aus. Nur einen Monat später starb der ehemalige stellvertretende Generaldirektor von Gazprom, Alexander Tjuljakov. Die Ermittler gehen laut Focus aufgrund einer Notiz, über die die russische Zeitung Gazeta berichtet, auch hier von Suizid aus. Tjuljakov hatte sich laut offizieller Angaben auf seinem Landanwesen in der Nähe von St. Petersburg erhängt.
Russischer Angriffskrieg gegen Ukraine führt zu Offenlegung von Korruption in russischer Elite
Transparency International und Novayagazeta Europe haben über diesen mysteriösen Tod eine investigative Recherche angestellt. "Die Recherche bestätigt meine These, dass verschiedene Aspekte zusammenkommen, die zwar mit dem Krieg zusammenhängen, aber nicht monokausal auf Putin deuten", sagt Burkhardt. Vielmehr gehe es um Korruption und um die Folgen, die der Krieg für schmutzige Geschäfte und Praktiken haben kann.
"Top-Manager von Gazprom haben über verschiedene Subunternehmen viel Geld gemacht und im Ausland investiert. Im Fall Tjuljakov ging es um ein Hotel in Montenegro", erklärt der Experte. Hier kämen dann zwei Entwicklungen zusammen: "Weil viele Staaten auf der Seite der Ukraine stehen, beispielsweise Montenegro, Spanien oder auch Frankreich, schauen die Behörden nun auch bei russischen Investitionen, wo man früher vielleicht ein Auge zugedrückt hat, genauer hin. Viele solche korrupten Delikte werden nun aufgedeckt."
Russland-Experte: Verzweiflungstaten sind vorstellbar
Das führe dazu, dass solche Vorgänge und Transaktionen Fragen aufwerfen. Investitionen in Länder, die Russland feindlich gegenüberstehen, sind während des Krieges nicht gern gesehen. "Das kann zu Einschüchterung über Gewaltanwendung bis zu Auftragsmord führen", meint Burkhardt. Gleichermassen könnten auch Suizide aus diesen Faktoren resultieren.
"Wer jahrzehntelang profitiert, plötzlich vor dem finanziellen Ruin steht und alles verliert – und dann auch noch dafür belangt wird, in ein feindliches Land investiert zu haben –, der mag zu einer Verzweiflungstat gedrängt werden. Ohne, dass das die zwingende Konsequenz sein muss, ist eine solche Schlussfolgerung jedenfalls vorstellbar." So ist auch die investigative Recherche von Transparency International und Novaya Gazeta Europa zum Schluss gekommen, dass es sich beim Fall Tjuljakov tatsächlich um einen Suizid handelt.
Burkhardt: Russische Elite führt harte Verteilungskämpfe
Ein weiterer Fall, der sich im Umfeld des russischen Gasriesen Gazprom ereignet hat, ist der Tod von Juri Woronow. Der Geschäftsführer eines Logistikunternehmens, das Verträge mit Gazprom abgeschlossen hatte, war im Juli 2022 nach Informationen der Daily Mail, die sich auf russische Behörden bezieht, mit einer Schusswunde am Kopf in einem Vorort von St. Petersburg aufgefunden worden. Neben seiner Leiche soll eine Pistole gelegen haben und am Grunde des Pools hätten sich geleerte Patronenhülsen gefunden.
Der Fall klingt nach einer der von Burkhardt angeführten Auseinandersetzungen innerhalb der russischen Elite. Denn die russischen Ermittler teilten mit, Woronow sei nach einem Streit mit Geschäftspartnern ums Leben gekommen.
"Der Krieg Russlands gegen die Ukraine führt dazu, dass erst jetzt ein richtiges Schlaglicht auf die korrupte Elite geworfen wird. Aus den verschiedenen zusammenkommenden Faktoren können Auftragsmorde entstehen, die mit Putin zu tun haben können – oder aber auch nicht. In vielen Fällen ist es wohl wahrscheinlicher, dass es alternative Erklärungen gibt, die überzeugender sind. Dazu gehören tatsächliche Suizide oder auch Morde auf Basis der Auseinandersetzungen der russischen Elite unterhalb Putins. Wir wissen schon lange: Diese Elite führt ihre Verteilungskämpfe mit besonders harten Bandagen."
Verwendete Quellen:
- dailymail.co.uk: Another oligarch dies under mysterious circumstances in Russia: Energy boss Igor Shkurko is found dead in his prison cell after he was accused of taking a bribe
- dailymail.co.uk: Russian executive linked to Putin energy giant Gazprom is found shot dead in his swimming pool in latest mystery death of country's tycoons
- focus.de: Russischer Oligarch tot gefunden – einer von 40 mysteriösen Fällen
- focus.de: Mysteriöse Todesfälle unter russischen Oligarchen häufen sich
- novayagazeta.eu: Gazprom: Russia’s state corruption giant
- rnd.de: "Schlaganfall": Einer von Putins wichtigsten Propagandisten ist unerwartet gestorben
- spiegel.de: Zwei russische Manager-Familien sterben durch Gewalttaten
- tass.ru: Strafverfahren nach Tod des Ex-Top-Managers von Lukoil
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.