Die Ukraine müsse "entnazifiziert" werden, das behauptet der russische Präsident Wladimir Putin bis heute. Interessant ist, dass viele, sogar aufgeklärte, Menschen bis heute glauben, die Ukraine habe ein grösseres Problem mit Rechtsextremisten als andere Staaten.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Joana Rettig (RiffReporter) sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Diesmal war Lara besser informiert. Denn es ging um Nazis. Und wenn irgendwo in Deutschland das Wort "Nazis" erklingt, werden wir Demokrat:innen hellhörig. Lara, meine Freundin, mit der ich Woche für Woche ein Gespräch über die Ukraine führe, um herauszufinden, wie viel Menschen, die sich nicht täglich mit diesem Land beschäftigen, wissen – oder eben nicht.

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Ich fragte Lara: "Was weisst du denn darüber, dass es in der Ukraine vor Nazis nur so strotzt?"

"Ich dachte tatsächlich bisher, dass das russische Propaganda ist", sagte sie.

Zahlen, Daten, Fakten habe sie keine. Aber weil sich die Ukraine ja immerhin in den vergangenen Jahren immer mehr an Europa und seine Werte angenähert hätte … hier stockte sie. "Na ja … Wenn man sich die Entwicklungen in Europa anschaut …" Sie meinte natürlich das Erstarken der Rechten in ganz Europa. Die AfD steht derzeit – kurz vor der Bundestagswahl – bei rund 20 Prozent. 2021 erreichte sie etwas mehr als 10 Prozent.

Schauen wir hier mal in die Ukraine, wo die letzten Parlamentswahlen 2019 stattgefunden haben – wegen des Kriegsrechts gab es seither keine mehr. Hier gab es zwei nennenswerte rechte bis rechtsextreme Parteien, die es allerdings nicht einmal ins Parlament schafften. Die Allukrainische Vereinigung "Swoboda" und die Radikale Partei Oleh Ljaschkos. Letztere stellte tatsächlich ab dem 2. Dezember 2014 mit Walerij Woschtschewskyj für knapp ein Jahr einen der stellvertretenden Ministerpräsidenten der Ukraine, ist aber mittlerweile mit vier Prozent fast in der Bedeutungslosigkeit verschwunden.

Wie ein Dorn unter der Haut

Interessant ist allerdings, dass sich das Narrativ der Nazis in der Ukraine weiterhin hält. Wie ein Dorn in der Haut: tief eingedrungen, giftig, schmerzhaft. Und selbst nach dem Herausziehen hinterlässt er eine Entzündung.

Dass es sich hierbei um russische Propaganda handelt, wissen die meisten. Und dennoch höre ich – auch von aufgeklärten Menschen – oft Worte wie: "Na ja, aber es stimmt ja schon, dass die Ukraine ein Problem mit Nazis hat." Dabei fallen oft zwei Begriffe: Asow und Bandera.

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Die Asow-Brigade stammt ursprünglich aus Mariupol, der von Russland besetzten Hafenstadt am Asowschen Meer. Besonders während der Verteidigung des Asow-Stahlwerks 2022 rückten die Kämpfer und Kämpferinnen dieser Brigade (damals noch ein Regiment) ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Die meisten Soldaten und Soldatinnen, die sich dort monatelang gegen russische Angriffe wehrten, gehörten zum Regiment.

Bereits kurz nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine wurde Mariupol zum Symbol des ukrainischen Widerstands. Als Russland am 9. März 2022 eine Geburtsklinik in der Stadt bombardierte, behauptete der Kreml, dort hätten sich Mitglieder des Asow-Regiments und "andere Extremisten" verschanzt.

Der Westen wies diese Begründung entschieden zurück. Die ukrainische Regierung und internationale Beobachter verglichen die Zerstörung Mariupols mit den russischen Bombardierungen von Aleppo in Syrien und Grosny in Tschetschenien, die nahezu dem Erdboden gleichgemacht wurden.

Das Fünkchen Wahrheit

Propaganda funktioniert allerdings nur, wenn sich irgendwo in der Erzählung auch nur ein Fünkchen Wahrheit verbirgt. Und tatsächlich: Das Asow-Regiment wurde 2014 als Freiwilligenbataillon gegründet und sorgte früh für Kontroversen, da einige Kämpfer rechtsextreme Symbole wie die Wolfsangel nutzten.

Einer der Gründer war Andrij Bilezkyj, ein bekannter Rechtsextremist. Bereits im Oktober 2014 verliess er die Einheit und gründete später die Partei "Nationales Corps" und die "Nationale Miliz", die mit martialischen Fackelmärschen in Kiew Schlagzeilen machte. Beide Organisationen bezeichneten sich als Teil der sogenannten Asow-Bewegung, hatten aber Experten und Expertinnen zufolge wenig mit dem kämpfenden Regiment zu tun.

Auch ausserhalb der Ukraine dient Asow als Projektionsfläche für extreme politische Strömungen. In Deutschland etwa sind Verbindungen zwischen Asow und der rechtsextremen Kleinstpartei "III. Weg" bekannt.

Schon seit 2014 ist das Asow-Regiment offiziell in die ukrainische Nationalgarde integriert und untersteht dem Innenministerium. Trotz der Eingliederung in staatliche Strukturen behalten einige ehemals paramilitärische Gruppen teilweise ihre Eigenständigkeit und könnten unabhängig agieren. Die Kämpfer und Kämpferinnen haben, vor allem seit der Einnahme von Asowstal, Heldenstatus in der Ukraine. Bis heute demonstrieren Hunderte Ukrainer und Ukrainerinnen regelmässig für deren Freilassung aus der russischen Kriegsgefangenschaft.

Vergleich mit Nazi-Deutschland

Vor allem wegen des Heldenstatus hat die Brigade Asow im Land einen besonders guten Ruf. Mittlerweile werden hier grösstenteils Spezialkräfte ausgebildet, viele Freiwillige melden sich, um für diese Einheiten kämpfen zu dürfen – so kann sich die Führung gezielt die besten Kämpfer auswählen.

Experten und Expertinnen wie der Analyst Andreas Umland des Stockholm Center for Eastern European Studies bestätigen, dass das Regiment anfangs tatsächlich einen rechtsextremen Hintergrund hatte, sich aber mittlerweile "entideologisiert" habe und eine normale Kampfeinheit sei. Auch das Wolfsangel-Symbol habe in der Ukraine keine faschistische Bedeutung mehr.

Trotzdem bleibt Asow ein zentrales Element der russischen Propaganda. Historische Bezüge spielen dabei eine grosse Rolle: Russland stellt den Kampf gegen Asow in eine direkte Linie mit dem Sieg über Nazi-Deutschland. Begriffe wie "Nazismus" und "Faschismus" haben im russischen Sprachgebrauch eine absolute, fast mythische Bedeutung. Für den Kreml ist der Bezug auf den Zweiten Weltkrieg ein wichtiges Instrument, um den Krieg in der Ukraine zu rechtfertigen.

Kommen wir zum zweiten grossen Nazi-Punkt – und hier wird es kompliziert: Immer wieder wird in prorussischen Kreisen an Stepan Bandera erinnert, einer der umstrittensten ukrainischen Nationalistenführer aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Seine Organisation kämpfte teils an der Seite der deutschen Wehrmacht und wird für Massaker an polnischen Zivilisten verantwortlich gemacht.

Weil Bandera allerdings Verfechter der ukrainischen Unabhängigkeit war, dies aber nicht den Vorstellungen von Nazi-Deutschland entsprach, wurde er im Juli 1941 verhaftet und in das Konzentrationslager Sachsenhausen verfrachtet. Heute gibt es in der Ukraine zahlreiche Denkmäler für Bandera, und nationalistische Gruppierungen wie der "Rechte Sektor" veranstalten Gedenkmärsche zu seinen Ehren.

Bandera – umstrittene Figur

Bandera gilt einerseits als Symbol des Widerstands für die Unabhängigkeit der Ukraine, andererseits machen ihn viele Historiker für die Zusammenarbeit mit Nazi-Deutschland und die Beteiligung an Verbrechen gegen Polen und Juden verantwortlich. Diese ambivalente Wahrnehmung prägt bis heute die Erinnerungskultur und wird in aktuellen politischen Diskursen instrumentalisiert.

In der sowjetischen und heutigen russischen Propaganda wird Bandera als Inbegriff des "ukrainischen Faschismus" dargestellt. Der Begriff "Banderowzy" dient dabei als Schimpfwort für ukrainische Nationalisten und wird genutzt, um die Notwendigkeit der "Entnazifizierung" der Ukraine zu rechtfertigen. Diese Narrative werden herangezogen, um die russische Aggression gegen die Ukraine ideologisch zu untermauern und die ukrainische Regierung zu delegitimieren.

Auch in der Ukraine heftig diskutiert

Auch innerhalb der Ukraine ist die Figur Bandera Gegenstand intensiver Debatten. Während er in Teilen der Westukraine als Nationalheld gefeiert wird, ist die Haltung in anderen Landesteilen zurückhaltender oder ablehnend. Die offizielle Anerkennung Banderas als "Held der Ukraine" im Jahr 2010 führte zu kontroversen Diskussionen und wurde 2011 gerichtlich wieder aufgehoben. Dennoch sind in einigen Regionen Strassen und Plätze nach ihm benannt und es finden Gedenkveranstaltungen zu seinen Ehren statt.

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