Söldnerchef Jewgeni Prigoschin wurde offiziell für tot erklärt. Eine offizielle Ursache für den Absturz seines Privatjets gibt es allerdings bisher nicht. Für Kremlchef Wladimir Putin schafft der Tod seines Ex-Vertrauten indes auch Probleme.

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Ganz gelegt haben sich die Zweifel vieler Russen am Tod des Söldnerchefs Jewgeni Prigoschin auch Tage nach dem Absturz seines Privatjets nicht. Zwar haben die russischen Ermittler den 62-Jährigen nach einer molekular-genetischen Analyse nun offiziell für tot erklärt. Aber Antworten auf die Frage zur Ursache für den Absturz seines Privatjets am vergangenen Mittwoch bleiben sie bislang schuldig.

Es kursieren weiterhin die Versionen, dass ein Sprengsatz an Bord oder womöglich auch eine versehentlich gezündete Granate die Embraer zum Absturz gebracht haben könnte. Oder war es doch ein gezielter Anschlag mit einer Flugabwehrrakete?

Prigoschin hatte zahlreiche Feinde - und hielt sich wohl für unantastbar

Klar ist nur, dass Prigoschin sehr viele Feinde hatte - und sich mit seinem Aufstand gegen die russische Militärführung Ende Juni Kremlchef Wladimir Putin zum mächtigsten Gegner machte.

Die Mehrheit der politischen Beobachter schätzt, dass vor allem Putin ein Interesse daran hatte, den scharfen Kritiker der russischen Kriegsführung in der Ukraine aus dem Weg zu räumen. Putin selbst trat noch nach und warf seinem früheren Vertrauten noch nach dessen Ende "schwere Fehler" vor.

Der Kreml weist zurück, etwas mit dem Tod Prigoschins und der anderen sechs Angehörigen der Privatarmee Wagner sowie der drei Besatzungsmitglieder des Flugzeuges zu tun zu haben. In Kommentaren unabhängiger russischer Medien ist dennoch immer wieder von einer "kaltblütigen, öffentlichen Hinrichtung" die Rede.

Dass Prigoschin mit Wagner-Kommandeur Dmitri Utkin und anderen wichtigen Vertretern in einem Flugzeug sass und nicht separat reiste, erklären einige Beobachter so, dass sich der Geschäftsmann für "unantastbar" gehalten und sich damit in seiner Stellung selbst überschätzt habe. Das habe ihn unvorsichtig gemacht.

"Es war bemerkenswert, dass alle unsere Quellen in Russland, darunter viele im Sicherheitsapparat, sofort vermuteten, dass Prigoschin auf Putins Befehl getötet wurde."

Andrej Soldatow, russischer Geheimdienstexperte

Der im Ausland lebende russische Geheimdienstexperte Andrej Soldatow sieht den Absturz in einer Reihe mit anderen grossen Mordfällen, als etwa der Oppositionelle Boris Nemzow 2015 in Kremlnähe erschossen oder der frühere Geheimdienstoffizier Alexander Litwinenko 2006 in London mit dem Strahlengift Polonium-210 vergiftet wurde. Zugleich sieht er ein "neues Niveau" der Gewalt, weil auch Unbeteiligte - wie etwa die Crew des Flugzeugs - Opfer geworden sind.

"Es war bemerkenswert, dass alle unsere Quellen in Russland, darunter viele im Sicherheitsapparat, sofort vermuteten, dass Prigoschin auf Putins Befehl getötet wurde", sagte Soldatow. Viele hätten das als Rache gesehen für die bei dem Wagner-Aufstand im Juni getöteten Piloten.

Prigoschins Maschine stürzte unweit einer Residenz Putins zwei Monate nach der missglückten Revolte ab - sie war auf dem Weg von Afrika nach St. Petersburg - nach einem Zwischenstopp in Moskau.

Politischer Analyst sieht ein für Diktaturen typisches Bestrafungsmuster

Ein für Diktaturen typisches Bestrafungsmuster und sogar "Züge eines Mafia-Staates" sieht der russische politische Analyst Alexander Baunow in einem Text für die US-Denkfabrik Carnegie. Es sei schon unter Sowjetdiktator Josef Stalin üblich gewesen, sich noch einmal "dem Feind/Verräter vor der Vernichtung anzunähern" und den Anschein zu erwecken, dass alles vergeben sei.

Putin hatte sich nach Prigoschins Aufstand noch mit ihm und Wagner-Kommandeuren im Kreml getroffen. "Das ist wie in Filmen über die Mafia, die feindlichen Gruppen und ihre Bosse kommen zusammen, um dann aufeinander zu schiessen", schrieb Baunow. Putin halte sich seit 24 Jahren auch deshalb an der Macht, weil er immer wieder jede Bedrohung ausgeschaltet habe.

Offiziell ermittelt wird nach dem Crash wegen Verstosses gegen die Sicherheit in der Luftfahrt, aber an einen Unfall glauben nur wenige. Der prominente Journalist Alexej Wenediktow, Chefredakteur des von den Behörden geschlossenen kremlkritischen Radiosenders Echo Moskwy, argumentierte, dass Prigoschin sich öffentlich gegen Putin gestellt - und damit als Verräter sein Ende besiegelt habe. Der Kremlchef vergebe so eine Blossstellung nie.

Putin braucht jetzt einen neuen Mann fürs Grobe

Als "kaltblütiger und berechnender Diktator" habe sich Putin zwei Monate Zeit gelassen, Prigoschins Geschäfte und Strukturen zu analysieren, sagt der Experte Soldatow. Der Taktiker Putin habe wie so oft aus der Krise eine Chance gemacht.

"Er hat versucht, die Erniedrigung des Aufstandes in seinen Vorteil zu verwandeln, indem er Hardliner innerhalb der Armee beseitigt und die Stimme des Dissens in den Militärkreisen unterdrückt hat." Vor dem Flugzeugabsturz war auch die Absetzung des Vizekommandeurs der Truppen in der Ukraine, General Sergej Surowikin, bekannt geworden.

Soldatow sieht aber eine Reihe von Problemen für Putin durch Prigoschins Tod. So müsse sich der Kremlchef nun einen neuen Mann fürs Grobe suchen und nicht zuletzt die Generalität inmitten der Schwierigkeiten im Krieg in der Ukraine an der Leine halten. Aus den Wagner-Reihen selbst könnten russischen Medien zufolge Kämpfer zudem versuchen, sich für den Tod Prigoschins zu rächen.

Insgesamt aber muss der Kreml die nun führungslose Wagner-Armee mit Tausenden Kämpfern etwa in Afrika oder in Belarus unter seine Kontrolle bringen. Russland hat stets betont, es werde seine Interessen in Afrika nicht aufgeben. Erste Wagner-Söldner klagen allerdings schon öffentlich, sie bekämen kein Geld mehr - und könnten nicht einmal ihre Behandlung im Krankenhaus bezahlen.

Prigoschins Beerdigung wird zur Belastungsprobe

Auch die Beerdigung des Prominenten ist eine breit diskutierte Frage: Wird Prigoschin, der den Titel "Held Russlands" trug, mit militärischen Ehren auf der nationalen Gedenkstätte mit Heldenallee und Monumenten in der Nähe von Moskau beerdigt? Oder in seiner Heimatstadt St. Petersburg? Oder, wie von einem Abgeordneten in Moskau vorgeschlagen, in der ostukrainischen Stadt Bachmut, die die Wagner-Armee erobert hatte? Letztere Variante ist nach Meinung von Prigoschin-Kritikern geeignet, damit niemand dorthin pilgern kann.

Schon jetzt gibt es in vielen Städten des Landes Erinnerungsstätten an den Wagner-Chef, der von vielen einfachen Russen wegen seiner scharfen Kritik am Machtapparat geschätzt wurde. Kremlsprecher Dmitri Peskow teilte mit, dass offen sei, ob der Präsident die Beerdigung besuche. Sein Terminkalender sei sehr voll.

Weitgehend klar ist indes, dass Prigoschin nicht nach dem Brauch der russisch-orthodoxen Kirche am offenen Sarg verabschiedet wird. Ermittler erklärten rasch, die Leichen seien verbrannt und entstellt vom Aufprall auf dem Boden.

Dass niemand Prigoschins Leiche zu sehen bekommt, dürfte aber den Mythos von Verschwörungserzählern anfachen, dass sich alles womöglich nur um eine Inszenierung handelt - und der Geschäftsmann woanders unter neuer Identität lebt.

Auch der kremlnahe Politologe Sergej Markow konnte dieser Version etwas abgewinnen, wie er in der Propaganda-Sendung Solowjow Live zum Besten gab. Damit werde den Anhängern Prigoschins die "innere Anspannung" genommen; und es helfe auch dem Kreml, weil das die Frage einer Schuld des Machtapparats an dem Absturz erübrige. Markow: "Solange die Menschen an Mythen glauben, stellen sie keine Fragen." (Ulf Mauder, dpa/ank)

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