Erst ein Erfolg – dann eine schwere Niederlage: Beim EU-Gipfel kann nicht über neue Ukraine-Hilfen entschieden werden. Dafür ist der Mann verantwortlich, der zuvor noch überraschend bei einem anderen Thema eine Lösung ermöglichte.
Beim EU-Gipfel in Brüssel hat der ungarische Regierungschef Viktor Orban nach einem überraschenden Einlenken für EU-Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine doch noch für Frust und Ärger gesorgt. Wegen eines Vetos des Ungarn konnten die anderen Staats- und Regierungschefs in der Nacht zum Freitag nicht wie geplant ein 50 Milliarden Euro schweres Finanzhilfen-Paket für die Ukraine beschliessen. Die Verhandlungen müssen deswegen nun im Januar fortgesetzt werden.
EU-Ratspräsident Charles Michel sagte: "Wir werden Anfang nächsten Jahres auf dieses Thema zurückkommen und versuchen, Einstimmigkeit zu erzielen." Orban feierte unterdessen im Internetportal X sein "Veto gegen zusätzliches Geld für die Ukraine" und gegen die mehrjährige Finanzplanung der EU. Man werde sich nächstes Jahr "nach ordentlichen Vorbereitungen" wieder damit befassen, schrieb er über sein "Nem" (Ungarisch für Nein).
Haushaltspläne liegen komplett auf Eis
Eigentlich hatte bei dem Gipfel beschlossen werden sollen, für die Unterstützung der Ukraine in den kommenden vier Jahren 17 Milliarden Euro an Zuschüssen und 33 Milliarden Euro an Krediten einzuplanen. Zudem war auch geplant, andere Bereiche des langfristigen EU-Haushalts von 2021 bis 2027 anzupassen. Auf Wunsch von Ländern wie Italien soll es so auch zusätzliches Geld für die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie und Migrationspolitik geben. Auch diese Pläne sind allerdings vorerst von dem Veto Ungarns betroffen.
Orban hatte Vorschläge der EU-Kommission für die Überarbeitung des langfristigen Haushalts bereits vor dem Gipfel als "unbegründet, unausgewogen und unrealistisch" kritisiert. Bis zuletzt hatten die anderen Staats- und Regierungschefs jedoch gehofft, ihn mit Kompromissangeboten doch noch zu einer Zustimmung bewegen zu können.
Verfahrenstrick im Streit um Beitrittsgespräche
Zuvor hatte es unerwartet einen Durchbruch in einer anderen Frage gegeben. So ermöglichte es Orban überraschend, den Start von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine zu beschliessen, indem er nicht an der entscheidenden Abstimmung teilnahm. Nach Angaben des scheidenden niederländischen Regierungschefs Mark Rutte zeigte ihm der Bundeskanzler Olaf Scholz diesen Weg auf. Ungarn konnte so bei seinem Nein zu den Beitrittsverhandlungen bleiben, ohne sie zu blockieren.
Dass Orban nicht auch bei den Entscheidungen zu den Finanzthemen eine Entscheidung ermöglichte, könnte daran gelegen haben, dass diese sein Land viel Geld kosten könnte. Der Beschluss für den Start von EU-Beitrittsverhandlungen ist hingegen nur symbolisch sehr wichtig, da ein tatsächlicher Beitritt der Ukraine vor dem Jahr 2030 als ausgeschlossen gilt.
Geldprobleme drohen zunächst nicht
Selenskyj äusserte sich zu dem nächtlichen Veto Orbans zunächst nicht. Die Entscheidung zum Start von EU-Beitrittsverhandlungen hatte er zuvor als Erfolg für die Ukraine und ganz Europa bezeichnet. "Ein Sieg, der motiviert, inspiriert und stärkt", schrieb der Staatschef über den Kurznachrichtendienst X.
"Auf diesen Schritt werden die nächsten folgen", sagte er in einer Videoansprache aus Lwiw am frühen Freitagmorgen. "Es ist eine grosse Aufgabe, den Staat, alle Institutionen, alle Normen - alles in die Europäische Union zu integrieren. Aber wir werden es schaffen." Die Ukraine habe wiederholt bewiesen, wozu sie fähig sei. "Es wird die Zeit kommen, in der wir den Beitritt der Ukraine zur EU feiern können."
Nach Angaben von Diplomaten wird die ausgebliebene Einigung auf neue Finanzhilfen die Ukraine bis zu dem nächsten EU-Gipfel im Januar nicht in Schwierigkeiten bringen. Schon jetzt wird zudem an Plänen gearbeitet, wie die Unterstützung auch ausserhalb des EU-Haushalts organisiert werden könnte. Dann könnte Orban diese nicht mehr blockieren.
Einigung auf neue Russland-Sanktionen
Als weiteren Erfolg des ersten Gipfeltages können die Staatschefs auch den Beschluss eines neuen Pakets mit Sanktionen gegen Russland verbuchen. Es sieht vor, ein Einfuhrverbot für Diamanten einzuführen und den zuletzt kaum noch wirkenden Preisdeckel für russische Ölexporte in Drittstaaten zu verschärfen. Zudem sind für weitere Güter Handelsbeschränkungen sowie Strafmassnahmen gegen Personen und Organisationen geplant, die den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine unterstützen.
Im Gegensatz zu Grossbritannien hat die EU bislang kein Importverbot für Diamanten aus Russland verhängt. Grund war lange vor allem der Widerstand Belgiens, wo die flämische Hafenstadt Antwerpen seit dem 16. Jahrhundert eines der bedeutendsten Diamantenzentren der Welt ist. Russland gilt wiederum als weltweit grösster Produzent von Rohdiamanten. 2021 hatte der staatliche Diamantenförderer Alrosa Einnahmen in Höhe von 332 Milliarden Rubel (rund 3,41 Milliarden Euro).
Neben den wirtschaftlichen Strafmassnahmen sind nach EU-Angaben Sanktionen gegen mehr als 100 weitere Personen und Organisationen vorgesehen, die den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine unterstützen. Diese könnten dann nicht mehr über in der EU vorhandene Vermögen verfügen. Die betroffenen Personen dürften zudem nicht mehr in die EU einreisen. Sie sollen zum Beispiel aus dem russischen Militär-, Verteidigungs- und IT-Sektor stammen. (dpa/mbo) © dpa
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