Die Verteidigungsminister Frankreichs und Russlands sprechen das erste Mal seit Langem wieder über den Krieg in der Ukraine – und verbreiten danach unterschiedliche Lesarten.
Frankreichs Regierung hat an Russland appelliert, den islamistisch motivierten Terroranschlag bei Moskau nicht zu instrumentalisieren. Sein Land habe keinerlei Informationen zu einer Verbindung zwischen dem Attentat und der Ukraine, liess Verteidigungsminister Sébastien Lecornu am Mittwochabend nach einem Telefonat mit seinem russischen Amtskollegen Sergej Schoigu mitteilen.
Die beiden Chefdiplomaten hatten zuvor erstmals seit rund eineinhalb Jahren miteinander telefoniert. Lecornu habe den Anschlag bei Moskau verurteilt und an Frankreichs Bereitschaft zu verstärktem Austausch bei der Bekämpfung des Terrorismus erinnert, hiess es aus Paris.
Der Islamische Staat hat den Anschlag vor zwei Wochen in mehreren Bekennerschreiben für sich reklamiert. Westliche Sicherheitsbehörden und Experten halten diese Botschaften für glaubwürdig und gehen davon aus, dass die Attacke auf das Konto des IS-Ablegers Islamischer Staat Provinz Khorasan (ISPK) geht. Die russische Führung versucht, die Ukraine als eigentlichen Drahtzieher darzustellen.
Telefonat zwischen Paris und Russland
Nach Angaben des russischen Aussenministeriums versuchte Lecornu, die russische Seite im Telefonat mit Schoigu davon zu überzeugen, dass weder die Ukraine noch westliche Länder in den Terroranschlag verwickelt gewesen seien. Der Franzose habe die Verantwortung auf den IS geschoben. Schoigu habe betont, dass die Ermittlungen zum Abschluss gebracht und alle Verantwortlichen bestraft würden.
Am 22. März hatten vier Männer ungehindert ein mit Tausenden Menschen besetztes Veranstaltungszentrum am Moskauer Stadtrand gestürmt, um sich geschossen und einen Brand gelegt. Bei dem schlimmsten Terroranschlag in Russland seit Jahren kamen mehr als 140 Menschen ums Leben. Mehrere mutmassliche Terroristen und Hinterleute sitzen in Untersuchungshaft.
Russland bereit für Gespräch über Zukunft der Ukraine
Die russische Seite habe Hinweise auf eine ukrainische Spur bei der Organisation des Terroranschlags, heisst es aus Moskau. "Das Kiewer Regime tut nichts ohne die Zustimmung der westlichen Kuratoren. Wir vertrauen darauf, dass in diesem Fall nicht die französischen Geheimdienste dahinterstecken", sagte Schoigu. Zur möglichen Entsendung französischer Truppen in die Ukraine erklärte der russische Minister, Frankreich würde sich damit Probleme einhandeln. Nach russischen Angaben sind schon etliche französische Söldner in der Ukraine ums Leben gekommen.
Lecornu verurteilte nach Pariser Angaben den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Frankreich werde die Ukraine so lange und so intensiv wie nötig in ihrem Kampf um Freiheit und Souveränität unterstützen, um Frieden und Sicherheit auf dem europäischen Kontinent wiederherzustellen.
Das russische Aussenministerium teilte mit, Schoigu habe Bereitschaft zum Dialog über die Zukunft der Ukraine signalisiert. Grundlage dafür könne die Friedensinitiative von Istanbul kurz nach Kriegsbeginn im Frühjahr 2022 sein. Damals soll die Ukraine angeblich bereit gewesen sein, auf einen Nato-Beitritt zu verzichten. Als sinnlos stellte Schoigu einen von Kiew in der Schweiz geplanten Friedensgipfel dar, weil Moskau dort nicht vertreten sei.
Selenskyj bittet Verbündete um Hilfe gegen Russland
In der Ukraine warnte Präsident Wolodymyr Selenskyj derweil vor neuen russischen Operationen und einer Mobilmachung. Angesichts befürchteter neuer russischer Offensiven bat er die westlichen Verbündeten erneut mit Nachdruck um Hilfe. "Wir müssen diesen Krieg gewinnen. Das ist eine historische Chance für die Ukraine, den russischen Revanchismus zu durchkreuzen, und wir müssen sie ergreifen", sagte Selenskyj in seiner in Kiew am Mittwoch verbreiteten abendlichen Videobotschaft. Der Ukraine sei klar, was Russland vorhabe und wozu das Land Soldaten rekrutiere, sagte der Präsident. Details nannte er nicht.
Experten gehen davon aus, dass Russland einen neuen Grossangriff planen könnte, um über die bisher teils besetzten ukrainischen Regionen Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson hinaus weitere Gebiete komplett unter seine Kontrolle zu bringen. Die russische Armee könnte demnach auch versuchen, die Regionen Charkiw und Odessa zu annektieren. Der Machtapparat in Moskau hat diese Regionen zuletzt immer wieder als historische russische Gebiete bezeichnet.
Peskow dementiert Pläne für erneute Mobilmachung
Selenskyj zufolge will Russland bis 1. Juni 300.000 Reservisten für neue Militäroperationen mobilisieren. Kremlsprecher Dmitri Peskow wies das zurück. "Das ist nicht die Wahrheit", sagte er. Russland hat mehrfach erklärt, genügend Freiwillige für den Kriegsdienst zu haben. Eine neue Mobilmachung wie im Herbst 2022 soll es demnach nicht geben. Damals gab es Proteste gegen die von Kremlchef Wladimir Putin veranlasste Zwangseinberufung von 300.000 Reservisten zum Krieg, Hunderttausende Männer flüchteten ins Ausland.
Für eine Verteidigung ihres Gebiets ist die Ukraine, die sich seit mehr als zwei Jahren gegen den russischen Angriffskrieg wehrt, auf breite westliche Hilfe angewiesen. Selenskyj fordert deshalb immer wieder noch mehr Waffen und Munition. "Und wir, alle von uns, unsere Partner, müssen eine starke Reaktion auf die russischen Operationen parat haben", sagte Selenskyj. Wichtig sei, die Verteidigung der ukrainischen Positionen zu stärken und weiter Druck auf die russischen Stellungen auszuüben.
Selenskyj plädierte einmal mehr für eine Einladung der Nato an die Ukraine, dem Bündnis beizutreten. "Wir dürfen keine Zeit verlieren", sagte er. Es gehe "um unsere gemeinsame Sicherheit, um den Schutz von Millionen von Menschen vor russischen Mördern".
In Brüssel feiert die Nato an diesem Donnerstag ihre Gründung vor 75 Jahren mit einer Zeremonie im Hauptquartier des Bündnisses. Nach der Feier sind Arbeitssitzungen geplant, unter anderem mit dem ukrainischen Aussenminister Dmytro Kuleba.
Regierungschef: Ukraine braucht Hilfe bei Flugabwehr und Munition
Die ukrainischen Streitkräfte benötigen nach Angaben von Ministerpräsident Denys Schmyhal gegenwärtig vor allem Waffenhilfe zur Abwehr russischer Luftangriffe. "Was brauchen wir am meisten? Meiner Meinung nach sind Flugabwehrsysteme und Raketen oberste Priorität", sagte er am Mittwoch bei einem Besuch in Estland. Demnach mangelt es der Ukraine an Ausrüstung, um Städte und Energieanlagen zu schützen. "Die zweite Priorität ist Munition für die Artillerie", sagte Schmyhal nach einem Treffen mit seiner Amtskollegin Kaja Kallas in Tallinn.
Kallas sicherte der Ukraine weitere militärische Unterstützung Estlands zu und rief auch andere Länder dazu auf, ihre Militärhilfe zu erhöhen. "Wir müssen die Ukraine so lange wie nötig und - ebenso wichtig - im erforderlichen Umfang unterstützen. Wir müssen jetzt handeln, wir dürfen keine Zeit verlieren", betonte sie. "Die Ukraine benötigt dringend und schnell Lieferungen." Estland gehört zu den entschlossensten Unterstützern der Ukraine. (dpa/lag)
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.