- Putin hat nicht nur mit den Säbeln gerasselt, sondern seine Drohungen wahrgemacht: In der Nacht zu Donnerstag hat er die Ukraine überfallen.
- Im Westen zeigten sich viele angesichts der Brutalität und Entschlossenheit des Kreml-Chefs überrascht.
- Wenige Tage zuvor hatte sich Putin noch gesprächsbereit gegeben, die EU wollte ihn mit Diplomatie zum Einlenken bewegen. Wie konnte es zu einer derartigen Fehleinschätzung kommen? Experten geben teils überraschende Antworten.
Es war kein blosses Säbelrasseln –
Der Westen konnte die Eskalation im Russland-Ukraine-Konflikt nicht verhindern. Mindestens in seiner Entschlossenheit und Brutalität hat er den Kreml-Chef unterschätzt. Kurz vor seiner militärischen Invasion hatte Putin in einer Fernsehansprache angekündigt, die Ukraine zu "demilitarisieren" und "entnazifizieren". Die diplomatischen Gespräche mit Kanzler Olaf Scholz (SPD) waren da erst wenige Tage alt.
Fehleinschätzung offensichtlich
Für den Westen wird nun eine grundlegende Neubewertung der sicherheitspolitischen Lage und dem Verhältnis zu Russland geboten sein. Aber schon vorher stellt sich die Frage: Wie konnte es im Vorfeld überhaupt zu einer derartigen Fehleinschätzung der Lage kommen? Schliesslich zeigten sich selbst Nato-Offiziere von Putins Vorgehen überrascht. Auch in der Ukraine selbst hatten viele Menschen bis zuletzt nicht an Angriffe ausserhalb der umkämpften Donbass-Region geglaubt.
Timm Beichelt ist Experte für Europapolitik. Er sagt: "Ein wichtiger Grund für die Fehleinschätzungen hinsichtlich des russischen Vorgehens liegt darin, dass Russland eine Reihe internationaler Verträge unterzeichnet hat, die das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine explizit anerkennen".
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Nicht mit Vertragsbruch gerechnet
Viele hätten nicht damit gerechnet, dass Russland als Staat, der ein wichtiges Mitglied der Vereinten Nationen sei, diese internationalen Verträge breche. "Ausserdem hat man offensichtlich den Stellenwert überschätzt, den Putin der internationalen Diplomatie beimisst", ergänzt Beichelt.
Nun ist klar: Die Gesprächsbereitschaft, die Putin in Spitzentreffen mit Macron und
Radikalisierung war nicht absehbar
"Die Radikalisierung des Regimes hat sich zum Schluss so beschleunigt, wie es auch in Russland kaum jemand zu denken gewagt hat. Die ganze Welt ist schockiert", erinnert er. Das entscheidende Problem liege darin, dass die bekannten Erkenntnisse nicht zu den nötigen Schlüssen geführt hätten.
"Die jetzt beschlossenen Sanktionen hinken immer noch der Zeit und den Ereignissen hinterher", betont Weichsel. Kritik an früheren Fehleinschätzungen seien heute fehl am Platz. Es gehe jetzt darum, nun wirklich entschlossen zu handeln. "Das ist leider nicht erkennbar. Die Beschlüsse der EU reichen bei weitem nicht aus und die Bundesregierung trägt dafür wesentliche Verantwortung", meint der Experte.
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Angriff zu verhindern war kaum möglich
Der gesamte Ansatz der deutschen, europäischen und amerikanischen Politik in den letzten Jahren sei es gewesen, Russland einzubinden. "Obwohl man sah, dass das Regime in Moskau immer radikaler wurde, sah man keinen Weg, als zu versuchen, es doch noch auf irgendeine Weise zu mässigen", analysiert er.
Um den Angriff zu verhindern, hätte man eine massive militärische Aufrüstung beschliessen und eine ganz andere Politik machen müssen, meint Weichsel: "Die Energiepolitik der EU hätte seit 20 Jahren anders ausgerichtet sein müssen, die Handelspartnerschaften mit Russland wären alle falsch gewesen", sagt er. So vorzugehen sei aber in der damaligen Zeit für niemanden vorstellbar gewesen.
Experte: "Komplett neu denken"
Und obwohl dies nicht geschehen ist, behaupte nun Putin genau dies. "In seiner Kriegsrede behauptet er, der Westen hätte seit 30 Jahren kein anderes Ziel verfolgt, als Russland kleinzuhalten, zu erniedrigen, auszubeuten", erinnert Weichsel. Man habe aber das genaue Gegenteil versucht und müsse nun komplett neu denken.
Im Wortlaut hatte Putin gesagt, Russland habe "beharrlich und geduldig versucht" eine "Einigung über die Grundsätze der gleichen und unteilbaren Sicherheit in Europa zu erzielen". "Als Antwort auf unsere Vorschläge sind wir immer wieder entweder auf zynischen Betrug und Lüge oder auf Druck- und Erpressungsversuche gestossen, während sich das Nordatlantische Bündnis trotz all unserer Proteste und Bedenken immer weiter ausdehnt", so der russische Präsident.
Warnsignale überhört
Auch Christopher Daase von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung betont: "Die Idee, Russland in die europäische Sicherheitsarchitektur einzubinden, war nicht von vornherein falsch. Man hat bestimmte Warnsignale aber nicht rechtzeitig wahrgenommen". Das wichtigste sei Putins Rede 2007 auf der Münchener Sicherheitskonferenz gewesen.
"Er hat dort sehr gezielt die westliche Sicherheitspolitik kritisiert und klargemacht, dass er persönlich und Russland sich betrogen fühlen", erinnert der Experte. "Spätestens da hätte man aufmerksam werden und wieder stärker auf Russland zugehen müssen", ist er sich sicher. Stattdessen habe man 2008 Georgien und der Ukraine die NATO-Mitgliedschaft angetragen. "Das war in der Situation genau das Falsche", so Daase.
USA und Europa geschwächt
Dass Putin sich jetzt entschlossen hat, die Ukraine zu überfallen, hat aus Sicht der Experten mehrere Gründe. "Die gesamte geopolitische Lage spielt eine Rolle", meint Daase. Die USA seien geschwächt, der amerikanische Präsident habe innenpolitisch so viel Gegenwind, dass Amerika nicht mehr so agieren können wie vor 20 Jahren.
"Auch in Europa stehen einzelne Staaten vor grossen Herausforderungen und Wahlkämpfen", erinnert er. Gleichzeitig habe der Schulterschluss mit China Russland ein Gefühl der Stärke gegeben. Weichsel sieht die Radikalisierung hingegen stärker innenpolitischen Entwicklungen geschuldet. "Die Schwäche des Regimes ist in der letzten Zeit immer offener zutage getreten", analysiert er.
Putins Angst vor Demokratie
Zusätzlich habe der niedrige Ölpreis die Ökonomie geschwächt, der Sicherheitsapparat habe zum Machterhalt zu immer stärkeren Repressionen greifen müssen. "Selbst die Wirtschaftsoligarchen sind immer mehr an den Rand gedrängt worden, sie fügten sich, weil sie profitieren, aber ihr Einfluss ist stark gesunken", sagt Weichsel.
Die Massendemonstrationen 2020 in Belarus gegen die Politik und Präsidentschaft Lukaschenkos haben aus Sicht des Experten eine bedeutende Rolle gespielt. "Das hat noch einmal untermauert, wie wenig Legitimität Diktatoren inzwischen haben und Putins Angst vor Demokratie verstärkt", sagt Weichsel. Putin habe sich zuletzt immer weiter abgekapselt. "In seinem eigenen Elitekreis hat er nur noch Gefolgsleute, die sich nicht gegen ihn wehren können, aber wenig echte Unterstützer", so der Experte.
Rolle der COVID-Pandemie
Aus Sicht der Experten hat auch die Coronakrise ihren Teil zur jetzigen Situation und der Fehleinschätzung beigetragen. Allerdings nicht, weil die Weltgemeinschaft mit etwas anderem beschäftigt war und die Aufmerksamkeit von der russischen Politik abgelenkt hat, sondern: "Die COVID-Pandemie hat die Gesellschaft müde und konflikt-avers gemacht", schätzt Daase.
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Beichelt sagt: "Es gibt glaubhafte Medienberichte, dass Wladimir Putin persönlich grosse Angst vor einer Infektion hat." Deswegen sei der Zugang zu ihm in den letzten Monaten stark eingeschränkt worden. "Vermutlich hat sich deshalb seine Fähigkeit vermindert, sich adäquat über das Geschehen in Russland und in der Welt zu informieren", kommentiert er.
Korrektur: In einer früheren Version dieses Artikel wurde behauptet, Russland habe die Ukraine bereits am Mittwoch überfallen. Tatsächlich fand der Angriff erst am Donnerstag statt.
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