- Soziale Netzwerke spielen eine grosse Rolle im Kontext des Kriegs in der Ukraine.
- Regierungen und ihre diplomatischen Vertretungen gebrauchen Twitter und andere Plattformen für ihre Zwecke.
- Aber nicht immer gelingen entsprechende Versuche, für die häufig sogenannte Memes genutzt werden.
"153 getötete ukrainische Kinder werden nie wieder Schokolade kosten können", schrieb das ukrainische Verteidigungsministerium am Freitagnachmittag auf Twitter und veröffentlichte dazu eine vermeintliche Verpackung der Marke Ritter Sport, zu deren Boykott es aufrief. Als Sorte angegeben war "Blood of Children", also Kinderblut. Damit schob es die Verantwortung für im Krieg in der Ukraine getötete Kinder auf das deutsche Unternehmen, das sein Russland-Geschäft trotz Protest aufrechterhalten will. Zuvor hatte bereits der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, auf einen ähnlichen Post hingewiesen. Der Beitrag des Ministeriums stiess nicht nur auf Zustimmung. Es war nicht das erste Mal in den vergangenen Wochen, dass das vor allem von Politik und Medien intensiv genutzte Netzwerk Schauplatz öffentlicher Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit dem Krieg wurde.
"Bei dem Ritter-Sport-Bild geht es um Geschmacklosigkeit, Polemik und die Funktionsweise von Nachrichtenfaktoren", sagt Lutz Hagen, Professor für Kommunikationswissenschaft an der Technischen Universität (TU) Dresden, im Gespräch mit unserer Redaktion. Solche Faktoren beschreiben Merkmale wie die geografische oder thematische Nähe zu einer Meldung aus Sicht der potenziellen Empfänger, etwa Ritter Sport als deutsches Unternehmen und bekannter Süsswarenhersteller. "Sie sorgen auch in diesem Fall für die angestrebte hohe Aufmerksamkeit durch Journalisten und andere", so Hagen.
Solche Posts sind ihm zufolge nur schwer moralisch zu beurteilen: "Dieser Krieg ist auch ein Informationskrieg, der nicht mit leichten Waffen gefochten wird. Kann man einem Land, dem aktuell die schlimmsten Dinge widerfahren, vorwerfen, dass es sich mit solchen Mitteln wehrt?" Da müsse man sehr vorsichtig sein, findet der Wissenschaftler. Etwas anderes wäre es ihm zufolge, wenn falsche Tatsachen behauptet worden wären, was allgemein natürlich auch in diesem Krieg vorkomme.
"Social-Media-Krieg" zwischen Russland und der Ukraine
Ein in dem virtuellen Ringen um Aufmerksamkeit gerne genutztes Mittel sind Memes, also Bilder oder kurze Videoausschnitte, die durch unterschiedliche Bildunterschriften in immer wieder neue Sinnzusammenhänge gesetzt und dadurch beliebig oft verwendet werden können. Aktuell ist deshalb manchmal auch von einem "meme war" (Meme-Krieg) die Rede, der zum Teil schon vor dem eigentlichen Krieg begann. Sammlungen entsprechender Bilder finden sich etwa bei dem Onlinemagazin "CoffeeOrDie" und auf dem Blog "Guide4Moms".
Die ukrainische Regierung veröffentlichte beispielsweise am Tag, an dem der russische Angriffskrieg begann, eine Karikatur von Adolf Hitler, der
Memes können für Propaganda genutzt werden
"Memes bergen grosse Gefahr für Desinformation, weil sie erstens sehr emotional und über Bilder funktionieren – oft über Bilder, mit denen man schon bestimmte Assoziationen hat", sagte Hanna Klimpe, Digitalberaterin und Professorin an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg, kürzlich in einem Interview mit dem "Redaktionsnetzwerk Deutschland". Sie könnten im wahrsten Sinne des Wortes das Bild von einem Konflikt prägen, so die Forscherin: "Gerade dadurch, dass sie so etwas Spielerisches haben, kann man auch sehr subversiv Desinformation platzieren und die für Propaganda nutzen."
Nicht nur Privatpersonen, sondern auch Regierungen und ihre diplomatischen Vertretungen nutzen Memes und soziale Netzwerke allgemein, um ihre Botschaften auf emotionalisierende und massentaugliche Weise zu verbreiten. Ein Beispiel: Der offizielle Twitter-Account der Ukraine veröffentlichte ein musikalisch untermaltes Video von geflüchteten Kindern - und mutmasslich von ihnen gezeichneten Bildern -, die sich bedanken bei den Ländern, die sie aufgenommen haben.
Selenskyj wird als Held dargestellt
Nicht immer sind entsprechende Versuche von "Meme-Diplomatie" erfolgreich, wie ein aus Expertensicht misslungener Tweet der US-Botschaft in Kiew zeigte. "Denn die Debatte war nicht das, was die Botschaft im Sinn hatte, da sich die Diskussion mehr um die Qualität des Memes als um den Inhalt drehte", schrieb die "Frankfurter Rundschau", die den Vorgang zusammenfasste. Der Journalist Tanner Greer bezeichnete ihn als "shitpost diplomacy", wobei mit "shitposting" das Veröffentlichen von sinn- oder anderweitig nutzlosen Beiträgen gemeint ist. "Die Aktivitätsschwelle für politische Statements im Internet ist sehr niedrig und das Potenzial für Emotionen ist hoch", so Lutz Hagen von der TU Dresden dazu. Viele Diplomatinnen und Diplomaten seien es inzwischen gewohnt, sich in den sozialen Netzwerken zu äussern: "Da kann es leichter als durch andere Medien passieren, dass Äusserungen undurchdacht, unabgestimmt und auch mal kontraproduktiv ausfallen."
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Als gelungen sieht er dagegen die Selbstinszenierung des ukrainischen Präsidenten
Der Krieg verkommt stellenweise zur Unterhaltung
Mit den problematischen Seiten von Memes und anderen Social-Media-Elementen befasst sich auch die Autorin Samira El Ouassil in ihrem auf dem Medienkritik-Portal "Übermedien" erschienenen Text "Der Krieg ist kein Marvel-Film". Darin beschreibt sie unter anderem, wie schlimme Geschehnisse aus der realen Welt online stellenweise zu blossem "Content", das heisst leicht konsumierbarem Inhalt, verkommen würden, der der Unterhaltung dient. "Insgesamt findet man überdurchschnittlich viele Memes, die die Kriegsprotagonisten Selenskyj und Putin als Avengers-Figuren übersetzen, so als sei der Konflikt etwas, das ein Achtjähriger gerade in seinem Kinderzimmer mit Actionfiguren ausficht", so El Ouassil mit Blick auf die auf Comics basierende Filmreihe über eine Gruppe von Superhelden.
Die reale Grausamkeit eines Kriegs dringt dann aber doch immer wieder als Thema durch, auch in der politischen Debatte auf Twitter. Am Sonntagabend wies etwa die Botschaft Russlands in Berlin Vorwürfe zurück, wonach es für getötete Zivilisten in der Stadt Butscha verantwortlich sei und markierte in dem Tweet zur Pressemitteilung unter anderem die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die dem Verteidigungsausschuss des Bundestags vorsitzt. Diese richtete ihre Antwort direkt an den Botschafter und schrieb unter anderem, dieser gehöre ausgewiesen: "Der Tag wird kommen, an dem Putin & seine Schergen, also auch Sie, sich für diese grausamen und massiven Kriegsverbrechen in Den Haag verantworten müssen."
Am Montag hatten die online viel diskutierten Geschehnisse in der Ukraine auch reale Konsequenzen: Deutschland erklärte mehrere Dutzend Angehörige der russischen Botschaft zu "unerwünschten Personen", was in der Diplomatie einer Ausweisung gleichkommt.
Verwendete Quellen:
- Twitter-Accounts von Defence of Ukraine (ukrainisches Verteidigungsministerium), Andrij Melnyk, Ukraine (ukrainische Regierung), Botschaft der Russischen Föderation, Marie-Agnes Strack-Zimmermann
- Gespräch mit Lutz Hagen, Professor für Kommunikationswissenschaft an der Technischen Universität Dresden
- Coffee or Die (Onlinemagazin): Here Are the Best Memes From the War in Ukraine
- Guide for Geek Moms (Blog): Collection Of Russia Ukraine War Memes
- Economist.com: Ukraine’s meme war with Russia is no laughing matter
- RND.de (Redaktionsnetzwerk Deutschland): Darf man den Krieg in der Ukraine zum Meme machen?
- FR.de (Frankfurter Rundschau): Ukraine im Konflikt mit Russland: US-Botschaft in Kiew versagt bei Meme-Diplomatie
- Scholars-Stage.org (Blog): Thoughts on Shitpost Diplomacy
- Uebermedien.de: Der Krieg ist kein Marvel-Film
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