- Das Narrativ, dass in der Ukraine Neonazis das Sagen haben, hat Putin während des Euromaidan aufgebaut, die Wurzeln liegen im Zweiten Weltkrieg.
- Was er unter dem Begriff "Neonazis" versteht, ist nicht deckungsgleich mit dem, was wir in Deutschland darunter verstehen.
- So oder so sei die Behauptung, dass die Ukraine "entnazifiziert" werden müsse, eine Erfindung Putins, sagen Experten.
"Liebe Kameraden! Ihre Väter, Grossväter und Urgrossväter haben nicht gegen die Nazis gekämpft, um unser gemeinsames Vaterland zu verteidigen, damit die heutigen Neonazis die Macht in der Ukraine übernehmen können." Unter anderem mit diesen Worten hatte
"Entnazifizierung" der Ukraine als Rechtfertigung für diesen Krieg? Warum das nur ein vorgeschobener Grund und eine Erfindung Putins sein kann, haben in den vergangenen Wochen viele Historikerinnen, Politologen sowie Osteuropa-Expertinnen und -Experten dargelegt. Es dürfte inzwischen wenig Zweifel geben, dass, wie etwa der Historiker Philipp Ther dem NDR sagte, "'Entnazifizierung' (…) nur eine Chiffre für die Absetzung der demokratisch gewählten Regierung und des demokratisch gewählten Präsidenten" ist.
Interessant ist trotzdem, woher diese Erzählung kommt. Ihre Wurzeln hat dieses Narrativ im Zweiten Weltkrieg, als das Sowjetreich vom Dritten Reich überfallen wurde und die Rote Armee Hitlers Armee besiegte. Der Ostblock, der sich nach dem Krieg unter der Führung der Sowjetunion formierte, sollte auch ein antifaschistischer sein. Denn es war ja der (deutsche) Faschismus, der diese grösste Katastrophe des 20. Jahrhunderts ausgelöst hatte.
"Um zu verstehen, woher das 'Entnazifizierungs'-Narrativ von Putin im Krieg gegen die Ukraine kommt, muss man also weit in die Geschichte der Sowjetunion zurückgehen", sagte uns die Historikerin und Slawistin Susanne Schattenberg. Zudem müsse klar sein: Was wir hier in Deutschland mit "Nationalsozialismus" verbinden, nämlich die Ermordung der Juden, den Holocaust, die Rassenideologie, ist nicht das, was in der Sowjetunion darunter verstanden wurde. "Seit dem Überfall der Deutschen auf die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg ist ein Nationalsozialist dort jemand, der Sowjetmenschen, verkürzt: Russen, angreift und tötet", sagt Schattenberg.
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"Zu einem Scheinbürgerkrieg mobilisiert"
Diese Erinnerung wurde von Putin nicht nur aufrecht erhalten und ausgebaut, unter anderem durch seine Siegesparaden am 9. Mai, bei denen der Ruhm und die Kraft der Roten Armee beschworen werden. Er hat sie für seine aggressive Politik gegenüber der Ukraine auch schon vor dem Krieg instrumentalisiert - und zwar bereits während der proeuropäischen Proteste in der Ukraine, dem Euromaidan, wie der Historiker Ther sagt. Hier sei ein Narrativ gepflanzt worden, "dass (…) diese Ukrainer, die sich auflehnen gegen die Herrschaft von Janukowitsch und gegen den russischen Einfluss, dass es sich dabei eigentlich um Faschisten handelt, beziehungsweise um Nazis".
Als nach der Absetzung des ukrainischen Ministerpräsidenten Viktor Janukowitsch die Kämpfe im Donbass im Osten der Ukraine begannen, gewann dieses Narrativ noch an Bedeutung. "Putins Erzählung ist: Im Donbass werden Russen getötet, also sind die Regierenden in der Ukraine Neonazis", sagt Historikerin Schattenberg. Abgesehen davon, dass es nicht stimme, dass die ukrainische Armee im Donbass gezielt Russen töte, werde hier ein vollkommen übertriebenes Bedrohungsszenario aufgebaut. "Putin sagt, dass es im Kleinen anfängt und als nächstes wird Russland überrannt - denn in Wahrheit benutze die Nato die Ukraine als Aufmarschgebiet."
Dabei sagen die Historiker nicht, dass es keine (ultra)nationalistischen Gruppen in der Ukraine gebe. Tatsächlich hätten in der Anfangsphase des Krieges im Donbass auch einige von Rechtsextremisten gegründete Einheiten eine Rolle gespielt, "so das berüchtigte, von ostukrainischen Neonazis geschaffene Bataillon (...) 'Asow'", schreibt der Osteuropa-Experte Andreas Umland. Dieses sei aber im Herbst 2014 in die Nationalgarde eingegliedert worden. Russland habe Kultur- und geopolitische Meinungsgegensätze sowie eine wachsende Medienpräsenz der "marginalen ultranationalistischen Gruppen" in der Ukraine gezielt dramatisiert und genutzt, "um Teile der Bevölkerung des Donezkbeckens für einen Scheinbürgerkrieg gegen 'Faschisten' (...) zu mobilisieren", so Umland.
Es gibt in der Ukraine Neonazis, aber sehr wenige
Was die Grösse und Zahl der rechtsextremen Gruppierungen in der Ukraine heute angeht, sagen die Forscher also: Ja, es gibt sie, aber nicht in grösserer Zahl als in anderen Ländern oder gar in Russland selbst. Putins Faschismus-Szenario geht jedoch ohnehin über die Ukraine hinaus. "Zwar behauptet er nicht, die Regierungen der Nato-Staaten seien Neonazis, aber er verweist darauf, dass überall auf der Welt Russen drangsaliert und terrorisiert würden", sagt Susanne Schattenberg.
Dass es jetzt mancherorts zu Anfeindungen von Russen kommt oder internationale wissenschaftliche Kooperationen eingestellt werden, schlachte Putin aus, um zu zeigen, dass Russen angeblich im Westen nicht mehr sicher sind. Auch dass Lettland und Estland nach 1991 beschlossen haben, dass die Staatsbürgerschaft nur bekommt, wer die Landessprache spricht, sah Putin als Angriff auf Russen; nämlich auf die, die in diesen Ländern leben. Oder dass Zeitungen in der Ukraine nicht mehr nur auf Russisch, sondern zusätzlich auf Ukrainisch erscheinen müssen. "All das steht natürlich in keinem Verhältnis zu dem, was aktuell passiert", sagt Schattenberg.
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"Sein Hass wirkt echt"
Die Angst vor der Nazi-Bedrohung dürfte vor allem bei älteren Menschen in Russland tief sitzen - aufgrund der schrecklichen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg. Aber auch Jüngere seien nicht davor gefeit, sagt Schattenberg. "Auch nicht davor, sich für Putins Weltkriegskult zu begeistern, mit dem die Stärke der Armee demonstriert und die Rote Armee als Befreier Europas gefeiert wird." Äusseres Zeichen dafür ist das schwarz-orange-gestreifte Georgsband, ein militärisches Abzeichen, das, wie die Historikerin sagt, auch viele Jüngere an ihren Rucksäcken oder Jacken tragen, um ihre Unterstützung für Putin zu zeigen.
Die Frage, die sich derzeit viele stellen, ist: Glaubt Putin selbst, dass die Ukraine von Nazis regiert wird? Schattenberg kann darüber, wie die meisten, nur spekulieren, sagt aber, das stehe zu befürchten. "Sein Hass auf die Ukraine wirkt jedenfalls echt, wenn man sich seine Erklärung drei Tage vor Kriegsbeginn angesehen hat."
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Verwendete Quellen:
- Telefoninterview mit Professor Susanne Schattenberg, Direktorin der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen
- NDR-Interview mit dem Historiker Philipp Ther vom 3. März 2022
- Bundeszentrale für politische Bildung: "Ukraine" von Andreas Umland, Politologe und Osteuropa-Experte (Stand: 20. Dezember 2020)
- Die Rede von Wladimir Putin am 24. Februar 2022 im Wortlaut bei Zeit online
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