• Im Westen lautet der beinahe einstimmige Tenor, Kreml-Chef Putin habe sich bei seinem Krieg in der Ukraine verkalkuliert.
  • Der Widerstand der Ukrainer müsse Putin ebenso überrascht haben wie die Geschlossenheit des Nato-Bündnisses.
  • Was aber, wenn Putins Plan von Anfang an ein ganz anderer war?
Eine Analyse

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Im Westen herrscht Konsens: Wladimir Putins Rechnung im Ukraine-Krieg geht nicht auf. "Putin hat sich komplett verkalkuliert mit dem Widerstand" titelt der "Tagesspiegel", von "Fehleinschätzungen im Kreml" spricht die Russland-Expertin Sabine Fischer im "Deutschlandfunk". Die Argumentation: Der Widerstand der Ukrainer, der Zusammenhalt des Westens, die Unterstützung durch China – all das wurde vom Kreml falsch eingeschätzt.

Warum, darüber gibt es unterschiedliche Theorien: Sie reichen von Putins schlechtem strategischen Urteilsvermögen, falschen Geheimdienstinformationen und Schwächen in seinem Beraterteam bis hin zu psychischen Störungen des russischen Machthabers.

Nun aber bringen Experten eine ganz andere Interpretation der Lage ins Spiel: Was, wenn Putin sich gar nicht verkalkuliert hat? Einer, der diese Theorie vertritt, ist der US-amerikanische Journalist Bret Stephens. In einem Beitrag in der "New York Times" warnt er ausdrücklich davor, in Putin den "verrückten Idioten" statt des "gerissenen Fuchses" zu sehen.

Stephens schreibt: "Nehmen wir für einen Moment an, dass Putin nie beabsichtigt hat, die gesamte Ukraine zu erobern: Dass, von Anfang an, seine wahren Ziele die Energiereichtümer im Osten der Ukraine waren, die Europas zweitgrösste bekannten Gasreserven umfassen."

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Diese Logik nehme weiter Gestalt an, wenn man bedenke, dass auch die Krim und die Provinzen Luhansk und Donezk über grosse natürliche Energievorkommen verfügen – Regionen, die Russland bereits in der Vergangenheit militärisch belagert hat. "Er ist weniger daran interessiert, die russischsprachige Welt zu vereinen, als vielmehr Russlands Energie-Dominanz zu sichern", schlussfolgert Stephens.

Drehbuch wie im Tschetschenienkrieg

Dabei gehe Putin nach demselben Drehbuch wie im ersten Tschetschenienkrieg Mitte der 90er-Jahre vor: Bei der Belagerung der Hauptstadt Grosny hätten tschetschenische Kämpfer russische Truppen zunächst auch zurückgeschlagen. Die Truppen hätten sich dann aber reformiert und Grosny aus der Ferne ausgelöscht.

Ein Raub im Gewand einer Invasion also? Der Experte für Sicherheitspolitik Tobias Fella ist im Gespräch mit unserer Redaktion skeptisch: "Das ist ein interessantes Gedankenspiel, aber ich halte die Theorie für unwahrscheinlich", sagt er. Alles deute darauf hin, dass Putin Kiew in Kürze erobern wolle, um dann zu verhandeln. "Auch jetzt gibt es für Russland aber weiterhin Gewinne zu erzielen", sagt er.

Mariupol, die grösste Stadt am Asowschen Meer, ist die seit vier Wochen am stärksten umkämpfte Stadt. "Wenn Putin sie nimmt, schafft er eine Landverbindung zwischen dem russisch kontrollierten Donbass und der Krim", analysiert Fella. Zudem liessen sich dann frei gewordene Truppen zur Einkreisung der ukrainischen Streitkräfte in der Ostukraine nutzen.

"Der Hafen ist wichtig für die ukrainische Ökonomie. Er ist eine wichtige Einnahmequelle. Das hat für Russland einen Nutzen und schwächt die Ukraine. Sie müsste stark vom Westen gestützt werden", sagt Fella weiter. Er sieht noch weitere strategische Motive Putins: "Das umstrittene ultranationalistische Asow-Regiment hat sein Hauptquartier in Mariupol. Eine Eroberung würde Putins Narrativ der Entnazifizierung in die Karten spielen", so der Experte.

Parallelen zum Tschetschenienkrieg sieht aber auch Fella: "Auch in Tschetschenien wurde das Vorgehen als Anti-Terroroperation gelabelt und nicht als Krieg. In beiden Fällen wurden ausserdem massive Mittel gegen Zivilisten eingesetzt, als der Kreml nicht so vorankam, wie er es plante", so Fella.

Experte sieht logistische Schwächen bei der russischen Armee

Er ist sich trotzdem sicher: "Putin hat sich verkalkuliert." Die Gründe dafür seien vielfältig: "Über Jahre hat sich ein geschlossenes Weltbild ergeben, sicherlich auch durch eine gegenseitige Bestärkung im engsten Kreis um Putin." Zudem seien logistische Schwächen der russischen Truppen übersehen worden: "Sie operieren beispielsweise sehr schienenlastig, haben nicht die notwendige Menge an Tanklastern und sogar Mängel bei der Winterbekleidung", erklärt Fella.

Er ist überzeugt davon, dass Putin auf einen schnellen Sieg und eine schnelle Einkreisung gesetzt hat. "Es ist zwar möglich, dass Russland im Norden jetzt nicht mehr so offensiv operiert – das halte ich aber mehr für ein Eingraben und eine Repositionierung", sagt Fella. Putin wolle jetzt Stabilität herstellen und die eigenen Verluste minimieren. Er wolle die Truppen für einen längeren Abnutzungskrieg aufstellen.

Was würde es aber bedeuten, wenn Stephens mit seiner Sicht der Dinge richtig liegen würde? "Dann hätte er den Westen ein weiteres Mal genarrt und die Ordnung in Europa würde künftig vor allem militärisch definiert", fürchtet Fella. Es würde wenig Akteure mit wirklicher Souveränität geben. "Wir hätten eine Art Wiener Kongress mit Grossmächten, bei denen kleine Länder Spielbälle sind", sagt er.

Permanent müssten viele Truppen an der Nato-Ostflanke stehen, es würde Aufstände in der Ukraine geben: "Wir hätten eine unklare Situation mit hohem Eskalationspotenzial. Russland würde noch stärker versuchen die Europäer zu spalten." Insgesamt sei der Westen aber auf Dauer ökonomisch und militärisch überlegen. "Wenn er eine gemeinsame Position aufrechterhält, kann Russland auf Dauer nicht erfolgreich sein", schätzt Fella.

Experte: Putin hat ein "One-Way-Ticket" gelöst

Putin habe am 24. Februar mit dem Kriegsbeginn ein One-Way-Ticket gelöst. "Es ist immer noch schwer denkbar, wie er da wieder rauskommen will. Putin scheitert oder gewinnt mit dem Ukraine-Krieg", meint der Experte. Was die Russen bislang militärisch besetzt haben, reiche allerdings nicht für einen gesichtswahrenden Exit.

"Wenn Putin eine Art Teilung der Ukraine anstrebt, potenziell ein Korea-Szenario, benötigt er vom Westen weitere Zugeständnisse, die weithin von demonstrierter Eskalationsbereitschaft und Fortschritten auf dem Schlachtfeld abhängen", ist sich Fella sicher.

Einen leicht haltbaren Frieden werde es in naher Zukunft nicht geben – egal, was Putins ursprünglicher Plan war. Für die Zivilsten bedeute es weiteres Leid, für die Welt weiter eine Ausnahmesituation.

Über den Experten: Tobias Fella ist sicherheitspolitischer Referent des Hamburger Haus Rissen. Zuvor war er Mitarbeiter der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) und der Stiftung Wissen und Politik (SWP). Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Russische Aussen- und Sicherheitspolitik, neue Militärtechnologien und der Formwandel des Krieges sowie soziale Medien und Desinformationskampagnen.

Verwendete Quellen:

  • Website der "New York Times": "What if Putin didn’t miscalculate?" 29.03.2022
  • Website des Tagesspiegel: "Putin hat sich komplett verkalkuliert mit dem Widerstand" 07.03.2022
  • Website des Deutschlandfunk: "Fehleinschätzungen im Kreml" 08.03.2022
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