Seit Wochen wird über eine Frühjahrsoffensive der Ukraine im Angriffskrieg Russlands spekuliert. Bisher ist sie nicht in Gang gekommen. Experten vermuten aber, dass die Vorbereitungen im Hintergrund laufen.
Die Ostfront ist schwer umkämpft. Am Sonntag verkündete die ukrainische Armee Erfolge in Bachmut. Doch ist das bereits der Beginn der grossen Gegenoffensive, die Kiew seit Monaten ankündigt? Selbst Militärexperten fällt es schwer, die Lage richtig einzuschätzen.
Die russische Offensive im Winter hat den Verlauf der Front kaum verändert. Jetzt erwartet der Westen, dass Kiew wieder die militärische Initiative ergreift. Schauplatz der längsten Gefechte ist Bachmut. Die ukrainische Armee erklärte am Sonntag, "mehr als zehn Stellungen" der Russen östlich der Stadt eingenommen zu haben. Das wäre der erste Vorstoss dort seit Monaten. Moskau hingegen beansprucht für sich Gewinne innerhalb der Stadt, die russische Soldaten bereits grösstenteils kontrollieren.
Unklarheit über Taktik der Ukraine
"Ich würde zu der Interpretation tendieren, dass die Ukraine versucht, die russischen Streitkräfte in Bachmut festzusetzen, um sie zu zwingen, an einem bestimmten Punkt der Front zu bleiben", sagt Ivan Klyszcz vom Thinktank ICDS in Estland. Gleichzeitig könnte die Ukraine andernorts angreifen. "In den russischen Militärkanälen kam kürzlich Panik auf wegen angeblicher ukrainischer Bewegung auf Stellungen in den von den Russen kontrollierten Gebieten", sagt Klyszcz. Doch diese Quellen seien "nicht immer zuverlässig".
Seit einigen Wochen konzentrieren sich die russischen Truppen auf die Defensive und versuchen, die mehr als 800 Kilometer lange Front zu sichern - mit Panzergräben, Panzersperren und Schützengräben. Stellenweise gibt es drei Verteidigungslinien.
"Die Ukraine hat in und um Bachmut örtlich begrenzte Gegenoffensiven ausgeführt, um die Russen zurückzudrängen und die Verteidigung in der Region zu testen", sagt Lucas Webber, Mitbegründer der Website Militant Wire. Auch an anderen Stellen der Front spiele sich Ähnliches ab. "Es ist schwer zu sagen, ob die geplante eigentliche Gegenoffensive begonnen hat, aber diese Aktionen deuten darauf hin, dass die Ukraine etwas viel Grösseres plant", sagt Webber.
Grosse Sorge um Sicherheit des Akw Saporischschja
Die extreme Länge der Front macht es schwer vorauszusehen, wo Kiew angreifen wird. Bachmut ist strategisch eher unbedeutend, aber ein Gegenangriff dort "wäre peinlich für den Kreml und die Gruppe Wagner, die die Stadt schon fast eingenommen hat", analysiert der Forscher. Ein ukrainischer Erfolg dort würde "Russland frustrieren und wäre ein erheblicher Rückschlag für Moskau".
Kiew könnte auch versuchen, das Atomkraftwerk Saporischschja im Südosten des Landes zurückzuerobern. Vor einer Woche hatte sich der Leiter der Internationalen Atomenergiebehörde, Rafael Grossi, besorgt über eine "zunehmend unvorhersehbare und potenziell gefährliche" Situation um das AKW geäussert. Andere westliche Analysten rechnen mit Vorstössen im Süden oder aber auch auf die besetzte Stadt Sewerodonezk im Osten.
Russland zielt auf Munitionslager
Pierre Razoux vom französischen Forschungsinstitut FMES sieht Anzeichen, dass zumindest die Vorbereitung auf eine Gegenoffensive bei Ukrainern als auch Russen in vollem Gange ist. "Davon zeugen die zunehmenden Sabotageakte auf russisches Territorium in Frontnähe und die russischen Angriffe auf ukrainische Waffen- und Munitionslager", sagt Razoux.
Am Sonntag zitierte die Tageszeitung "Washington Post" aus geheimen US-Dokumenten, wonach Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin dem ukrainischen Geheimdienst mehrmals angeboten habe, Informationen über den Standort russischer Armeeeinheiten zu liefern, wenn sich die Kiewer Streitkräfte im Gegenzug aus Bachmut zurückziehen würden. Prigoschin wies dies als "lächerlich" zurück. (afp/fab)
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