Sie klettern über Soldaten, zerstören Equipment, fressen die Vorräte: Eine Mäuse- und Rattenplage erschwert den Soldaten in den Schützengräben ihren Kampf gegen die russischen Invasoren noch zusätzlich. Auch gesundheitlich stellen die Schädlinge ein Risiko dar – erste Berichte über Erkrankungen gibt es bereits.
Ein dunkler Kellerraum. Drei militärische Erste-Hilfe-Taschen hängen an den Holzbalken, die die Wände stützen. Das Bild wackelt, der Mann hinter der Kamera unterhält sich mit seinem Kollegen auf Ukrainisch. Er greift nach einer der Taschen, öffnet sie. Plötzlich wird es laut in dem Video. Die Männer fluchen, lachen ein wenig, weichen aber dennoch zurück. Mindestens zwanzig Mäuse springen aus den medizinischen Taschen.
Es ist nicht das erste Video, das eine solche oder ähnliche Situation zeigt. Zugeschickt wurde es unserer Redaktion auf Anfrage von Stas, einem Soldaten, der in der Saporischschja-Region kämpft. Seinen echten Namen möchte er nicht öffentlich preisgeben. Seit Wochen veröffentlichen Soldatinnen und Soldaten Bilder und Videos von Ratten und Mäusen in Schützengräben und Unterkünften. Neben den brutalen Kämpfen an der Front führen sie und auch russische Soldaten einen ganz eigenen Kampf: den gegen Schädlinge.
Soldat Khlib: "Wir wissen, dass Ratten auch Leichen fressen"
Die Situation hat sich bereits seit den ersten kalten Tagen im Donbas zugespitzt. Auch in Städten und Dörfern, die nahe der Front liegen, ist die Ratten- und Mäuseplage deutlich spürbar. Die meisten Haushalte können sich mit Katzen und Hunden aushelfen, doch an der direkten Front ist das kaum möglich.
Ein weiterer Soldat, sein Deckname ist Khlib (zu Deutsch Brot), erklärt im Gespräch mit unserer Redaktion, dass ihnen die Tiere immer stärker zusetzen. Er kämpft in der Nähe der Stadt Wuhledar, im Norden der Donezk-Region. Und er sagt: "Sie fressen unsere Vorräte, knabbern an unseren Kabeln und anderem Equipment. Sie klettern über uns, während wir schlafen. Es ist sehr hart, mit ihnen im gleichen Graben zu leben." Gerade am Anfang sei es für Khlib schrecklich gewesen. "Sie machen die ganze Zeit Geräusche – und das, während du sowieso schon gestresst bist, da du oft unter Artilleriebeschuss bist. Du bist ständig in Habachtstellung und dann kommen diese Geräusche noch dazu. Sie schreien, knabbern, rascheln in Plastiktüten."
Allein die pure Anwesenheit der Tiere sei eine mentale Herausforderung. "Wir wissen, dass Ratten auch Leichen fressen. Du fragst dich ständig, ob die Ratte, die da neben dir sitzt, gerade deinen toten Freund oder einen Russen gefressen hat. Und es fühlt sich so an, als würden sie nur darauf warten, dass auch du stirbst und sie dann ein nettes Abendessen haben."
Kaum noch natürliche Feinde an der Front in der Ukraine
Khlib glaubt, dass sich die Population vergrössert hat, weil die Tiere kaum noch natürliche Feinde an der Front haben. Vögel, Katzen und Hunde seien nicht mehr vor Ort, die Nager könnten sich so fast ungestört vermehren. Die Kälte und Futtersuche treiben sie dann in die Schützengräben.
Auch Rost, ebenfalls ein Deckname, kämpft in der Region Donezk. Er berichtet davon, dass Mäuse und Ratten in die Panzer kommen. "Sie warten darauf, dass ein Panzer eine Weile stehenbleibt. Darin ist es warm, wir nehmen unser Essen mit dort rein, wenn wir an die Front gebracht werden." Sie müssten stark auf Sauberkeit achten, erklärt Rost. Und das, während sie eigentlich anderes im Kopf hätten.
Doch nicht nur, dass die Tiere den Soldatinnen und Soldaten mental zusetzen und die Ausrüstung beschädigen. Das britische Verteidigungsministerium schreibt auf dem Kurznachrichtendienst X, dass laut unbestätigten Berichten russische Einheiten zunehmend krank seien, was von den Truppen auf das Schädlingsproblem zurückgeführt werde.
Die Fachtierärzte Rainer G. Ulrich, Kerstin Fischer und Martin Groschup von der Nationalen Forschungsplattform für Zoonosen von der Universität Münster haben die Situation für unsere Redaktion eingeschätzt. Laut ihnen gibt es eine Reihe von zoonotischen Krankheitserregern, die von Nagetieren auf den Menschen übertragen werden können und unterschiedliche Erkrankungen hervorrufen.
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Hantaviren und Leptospiren
"Zuallererst wären hier Hantaviren zu erwähnen", schreiben die Wissenschaftler auf unsere Anfrage. Tatsächlich geht die Entdeckung dieser Viren auf Untersuchungen während eines Krieges zurück: der Koreakrieg, der zwischen 1950 und 1953 stattfand. Auch damals hatte es Plagen an den Frontabschnitten gegeben.
Demnach sei vor allem eine starke Vermehrung der Rötelmauspopulation verantwortlich für das erhöhte Auftreten humaner Infektionen. Symptome beim Menschen sind hier Fieber, Kopfschmerzen und Muskelschmerzen, auch Übelkeit und Erbrechen können die Folge sein.
Neben den Hantaviren könnten Leptospiren eine grosse Rolle spielen, schreiben die Wissenschaftler. Auch die Leptospirose äussert sich durch Fieber, Kopf-, Gelenk- und Muskelschmerzen. "Die Übertragung von Leptospiren ist stark an Wasser gebunden – so wurden in der Vergangenheit häufig Leptospirosefälle bei Überschwemmungen registriert."
Auch starke Regenfälle könnten Auslöser für die Verbreitung sein, was in der Ukraine gegen Ende des Herbstes und zu Beginn des Winters keine Seltenheit darstellt.
Ratten-Hepatitis und Rattenbissfieber
Ein weiteres Risiko stellt Ratten-Hepatitis dar, eine Lebererkrankung, die durch das Hepatitis E-Virus hervorgerufen wird. "Das Ratten-Hepatitis E-Virus wurde erst vor wenigen Jahren als Zoonoseerreger identifiziert", schreiben die Wissenschaftler. "Unsere Untersuchungen haben eine weite Verbreitung des Erregers in Rattenpopulationen in Europa gezeigt."
Laut Robert Koch-Institut ist eine Infektion damit die weltweit häufigste Ursache akuter viraler Hepatitiden. Klinisch verlaufe die HEV-Infektion meist asymptomatisch, könne aber auch Leberversagen auslösen. Auch das sogenannte Rattenbissfieber ist laut den Fachärzten der Zoonosen-Forschungsplattform eine Gefahr.
Schädlingsplagen sind üblich in Kriegen
Ratten können laut Ulrich, Fischer und Groschup auch Erreger weitertragen, ohne selbst infiziert zu sein – als "Cargo", wie sie es nennen. Vor allem virale Durchfallerreger und multiresistente Bakterien seien hier das Gesundheitsrisiko.
Neu ist der Schädlingsbefall während eines Kriegs nicht. Schon während des Ersten Weltkrieges gab es grosse Probleme mit Mäusen und Ratten. Laut dem Militärhistoriker und Politikwissenschaftler Rainer Pöppinghege schickte Österreich damals mehr als 1000 Katzen an die Front, um die Mäuseplage zu bekämpfen. Auch aus der Ukraine gibt es Berichte, dass Soldatinnen und Soldaten eigens Katzen mit in die Unterkünfte bringen.
Der Kämpfer Khlib meint allerdings: "Gift und Fallen sind momentan unsere einzigen Waffen dagegen."
Verwendete Quellen
- Schriftliche Anfrage an das Institut für Virologie der Nationalen Forschungsplattform für Zoonosen (Universität Münster)
- Telefonate mit den Soldaten mit den Decknamen Khlib und Rost
- Schriftliche Anfrage an einen weiteren Soldaten, Deckname Stas
- twitter.com: Britisches Verteidigungsministerium bei X
- rki.de: Offizielle Seite
- medical-tribune.de: Rattenbissfieber
- Buch "Tiere im Ersten Weltkrieg: eine Kulturgeschichte" von Rainer Pöppinghege
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