- Seinen Angriff auf die Ukraine hat Präsident Putin zuvor in einer Fernsehansprache angekündigt. Darin begründet der Kreml-Chef seine Militäroperation mit Lügen und verbreitet Unwahrheiten.
- Ein Experte sieht Parallelen zu anderen Kriegstreibern der Geschichte und warnt bei einer Argumentationslinie vor "Sprengstoff" für weitere Länder. Wie Putin ausserdem eine komplette Einverleibung der Ukraine rhetorisch vorbereitet hat.
Den Angriff hatte Präsident Putin zuvor in einer Fernsehansprache angekündigt. Russland könne Drohungen der Ukraine nicht tolerieren, sagte Putin. Der Angriff erfolge, zur "Gewährleistung der eigenen Sicherheit Russlands".
Angriff im Fernsehen angekündigt
Im Wortlaut sagte Putin: "Die Kriegsmaschinerie ist in Bewegung, und, ich wiederhole, sie nähert sich unseren Grenzen." Dabei sprach der russische Präsident von "fundamentalen Bedrohungen" und machte der Nato erneute Vorwürfe. Russlands Vorschläge seien auf "zynischen Betrug und Lüge oder auf Druck- und Erpressungsversuche gestossen", während sich das Nordatlantische Bündnis immer weiter ausgedehnt habe. Russland sei getäuscht worden.
Auf den "eigenen historischen Gebieten" werde ein "feindlich gesinntes Anti-Russland" geschaffen, das unter vollständige Kontrolle von aussen gestellt würde, "von den Streitkräften der Nato-Länder intensiv besiedelt und mit den neuesten Waffen vollgepumpt wird", behauptete Putin.
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Putin will Ukraine "entmilitarisieren"
Es gehe für Russland um "eine Frage von Leben und Tod, eine Frage unserer historischen Zukunft als Nation". Die führenden Nato-Länder unterstützten zum Erreichen ihrer eigenen Ziele "extreme Nationalisten und Neonazis in der Ukraine" und würden "unverhohlen Anspruch auf eine ganze Reihe anderer russischer Gebiete" erheben.
Russland müsse deshalb "entschlossen und sofort" handeln. "Die Volksrepubliken des Donbass haben Russland um Hilfe gebeten", begründete Putin die Militäroperation. Er kündigte an: "Wir haben nicht vor, die ganze Ukraine zu besetzen, aber sie zu demilitarisieren" und zu "entnazifizieren". Russland würde ständig von der Ukraine bedroht.
Experte: "Rede typisch für Kriegstreiber"
Man respektiere "die Souveränität aller neu entstandenen Länder im postsowjetischen Raum", aber Gerechtigkeit und Wahrheit stünden auf der Seite Russlands. Putin machte klar: "Wer auch immer versucht, uns zu behindern, geschweige denn eine Bedrohung für unser Land und unser Volk zu schaffen, muss wissen, dass die Antwort Russlands sofort erfolgen und zu Konsequenzen führen wird, die Sie in Ihrer Geschichte noch nie erlebt haben."
Für Politikwissenschaftler und Historiker Andreas Umland ist Putins Rede typisch für Kriegstreiber, die ihre Angriffskriege rechtfertigen. "Für militärische Aggression gab es meistens gute Begründungen. Historische Gerechtigkeit, Selbstverteidigung und Solidarität sind dabei Standardbegründungen und man hört sie immer wieder", so der Experte. Die "hyperbolische Rhetorik Putins" sei nichts Besonderes in der Weltgeschichte.
Beispiele aus der Geschichte
"Als Deutschland am 1. September 1939 Polen überfiel, schoss man angeblich nur zurück", erinnert Umland. Heute weiss man: Der mit einem angeblichen polnischen Angriff auf den Sender Gleiwitz in Schlesien gerechtfertigte Überfall war inszeniert und seit langem geplant.
"Auch im Juni 1941, beim Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion, wollte man angeblich nur einen Präventivschlag gegen den jüdischen Bolschewismus unternehmen", erinnert Umland. Die Liste könnte lange fortgeführt werden: Die USA wollten mit dem Vietnamkrieg nur den Vormarsch des Kommunismus stoppen, der Irakkrieg wurde mit dem angeblichen Besitz von Massenvernichtungswaffen des Diktators Saddam Hussein gerechtfertigt.
Experte: "Birgt enormen Sprengstoff"
"Putin hat in seiner Ansprache jetzt eine Geschichte über die Ukraine erzählt, die man eigentlich über viele Länder erzählen könnte", meint Umland. Nach der Kolonialzeit seien viele Grenzziehungen willkürlich erfolgt, Länder quasi zusammengewürfelt worden. "Wenn man daraus aber die Infragestellung eines Staates ableitet, dann birgt das enormen Sprengstoff", sagt Umland. Wenn man sich einmal auf diese Argumentationslinie einlasse, könnte man Krieg in vielen Regionen der Welt anzetteln.
Daran erinnerte auch der kenianische Botschafter Martin Kimani den Kreml-Chef im UN-Sicherheitsrat. "Kenia und fast jedes andere afrikanische Land wurde durch das Ende eines Imperiums geboren", sagte er. Die Landesgrenzen seien nicht von Kenia gemacht worden, sondern aus der Ferne aus den Metropolen der Kolonialmächte – ohne Rücksicht auf die alten Nationen, die sie damit gespalten hätten.
Klare Ansage im UN-Sicherheitsrat
"Heute leben unsere Landsleute über die Grenze von jedem afrikanischen Staat hinweg und wir teilen tiefe historische, kulturelle und sprachliche Bindungen", erinnert er. Anstatt mithilfe blutiger Kriege nach Staaten mit gleicher Ethnie oder Religion zu streben, hätte man sich aber mit den ererbten Grenzen zufriedengegeben.
"Anstatt Nationen zu gründen, die immer mit einer gefährlichen Nostalgie in die Geschichte zurückblicken, entschieden wir uns dafür, uns auf eine andere Grösse zu freuen, die keine unserer vielen Nationen und Völker jemals gekannt hatte", so Kimani.
Rede gespickt mit Lügen
"Putin verbreitet handfeste Unwahrheiten", sagt Umland. Die schlimmste Lüge sei die einer von Nationalsozialisten dominierten Ukraine. "Das ist eine völlige Verdrehung der Tatsachen. Die Ukraine war in den letzten 30 Jahren eher eine positive Ausnahme, was die Unterstützung von Rechtsextremen betrifft", sagt Umland.
Natürlich gebe es auch in der Ukraine Neonazis, sie seien aber von einer Machtübernahme weit entfernt. Rechtsextreme Parteien seien in der Ukraine erstaunlich schwach, "gerade angesichts der ökonomischen und sozialen Schwierigkeiten", kommentiert der Experte. "Der jetzige Präsident Selenskyj ist ausserdem ein ukrainischer Jude", erinnert Umland.
Populäres Narrativ
Das Narrativ sei in Russland aber extrem populär und knüpfe an die Rote Armee, die Befreiung vom Faschismus in den 40er Jahren und die historische Mission Russlands an. "Der Sieg über den Hitler-Faschismus ist das Grossereignis in der sowjetischen Geschichte, das versucht Putin jetzt wiederzubeleben", analysiert er.
Zu den unwahren Behauptungen Putins zählt auch, in der Ukraine herrsche eine "volksfeindliche Junta". Im Gegensatz zu seiner eigenen Präsidentschaft ist die Regierung in der Ukraine durch demokratische Wahlen legitimiert. Auch der Vorwurf, das "Kiewer Regime" misshandele und ermorde in der Ukraine Menschen, ist nicht haltbar. Damit bezog sich Putin auf den Krieg im Donbass, der bisher etwa 14.000 Todesopfer – meist ukrainische – forderte.
Widersprüchliche Aussagen
Es sei ausserdem widersprüchlich, dass Putin die Ukraine einerseits als nicht wirklichen Staat belache, gleichzeitig aber eine tödliche Bedrohung für Russland sehe, ergänzt Umland. "Putin behauptet, die Ukraine sei ein Aufmarschraum für die Nato und die Ukrainer würden angeblich Atomwaffen bauen und mit Völkermord befasst sein. Das stimmt so nicht", betont Umland.
Die Nato habe beispielsweise weniger Kernsprengköpfe als Russland. Gleichzeitig hatte das Bündnis im Vorfeld der jetzigen Invasion immer wieder betont, dass ein Beitritt der Ukraine mittelfristig nicht auf dem Plan stehe, es ausserdem militärisch nicht eingreifen werde – weil die Ukraine kein Nato-Staat sei.
"Unterjochung" der Ukraine
"Wenn Putin seine Pläne so umsetzt, würde das eine vollständige Unterjochung der Ukraine bedeuten", befürchtet Umland. Eine Einverleibung der kompletten Ukraine habe er damit rhetorisch bereits vorbereitet. "Das würde bedeuten, dass Russland das gesamte Territorium der Ukraine kontrolliert", so Umland.
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Gleichzeitig bezweifelt er jedoch, ob Russland dazu militärisch in der Lage ist. "Für die jetzigen Militärschläge hat Russland grosse Überlegenheit, aber eine dauerhafte Besetzung dürfte die Möglichkeiten übersteigen", meint Umland.
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