• Putin hat die Einberufung von 300.000 Reservisten angekündigt.
  • Mit der Teilmobilmachung werde sofort begonnen, sagte er am Mittwoch in einer Fernsehansprache.
  • Was bedeutet die Massnahme und welche Risiken sind damit verbunden? Militärexperte Gustav Gressel gibt Antworten.
Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marie Illner sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Paukenschlag im Ukraine-Krieg: In einer Fernsehansprache hat der russische Präsident Wladimir Putin am Mittwochmorgen knapp sieben Monate nach Kriegsbeginn eine Teilmobilmachung der eigenen Streitkräfte angekündigt. Demnach sollen 300.000 Reservisten einberufen werden, die bereits Militärdienst geleistet haben und über eine Spezialisierung sowie Erfahrung verfügen. Die Mobilisierung solle sofort beginnen. In seiner Ansprache drohte der Kreml-Chef ausserdem erneut mit dem Einsatz von Atomwaffen.

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Aus Sicht von Militärexperte Gustav Gressel ist der Schritt ein unfreiwilliges Eingeständnis: "Russland war auf dem verlierenden Ast in diesem Krieg und das, was an Streitkräften in der Ukraine war, hat sich nicht gut geschlagen", sagt er. Die Cherson-Offensive sei ein ziemlich grosser Erfolg für die Ukrainer gewesen. "Sie haben viel Material erbeutet und die Russen haben keine operativen Reserven mehr", erklärt Gressel.

Gressel: "Niemand meldet sich freiwillig für einen eigentlich schon verlorenen Krieg"

Würden die Ukrainer noch eine weitere Stellung durchbrechen, hätten sie gute Chancen im Luhansker Oblast sehr weit zu kommen. "Die Situation für Russland war prekär", fasst er zusammen. Die ukrainische Offensive sei genau zu einem Zeitpunkt erfolgt, als Russland eine Rekrutierungswelle hatte. "Eigentlich sollten die Kräfte, die jetzt im Krieg sind, abgelöst werden", sagt der Experte. Doch die Mehrheit der Bevölkerung scheint nicht wirklich hinter der Invasion zu stehen und ist nicht bereit, sich und die Angehörigen zu opfern.

"Niemand meldet sich freiwillig für einen eigentlich schon verlorenen Krieg", sagt Gressel. Das Militär habe die Sicherheitskreise stark zu einer Mobilmachung gedrängt. Wirtschaftsvertreter und Politiker hätten den Schritt eher zu verhindern versucht, weil Russland dadurch weiter isoliert werde. Viele Soldaten, die mobilisiert werden, stammen aus dem Mittelstand. Ihre Kampfmoral dürfte gering sein. "In den letzten zwei Wochen hat Putin scheinbar überlegt, was er macht oder nicht. Jetzt hat er sich entschieden, mobil zu machen", so Gressel.

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Russland in aussichtsloser Lage?

Auch er hatte im Vorfeld die Massnahme für möglich gehalten, wenn auch für unwahrscheinlich. "Sie birgt für Putin erhebliche innenpolitische Risiken", hatte Gressel schon vor knapp zwei Wochen zu einer Generalmobilmachung gesagt. Der Krieg sei in der russischen Bevölkerung nicht ausreichend populär.

"Auch bei einer Generalmobilmachung würden nicht sofort Horden über die Ukraine herfallen, die Ausbildung muss schliesslich erst noch beendet werden", hatte er erklärt und geschätzt, dass es bis zu sechs Monate dauern würde, bis man Reservisten mobilmachen, trainieren, zu Verbänden zusammenfügen und losschicken könnte.

Kommentatoren ordnen die Teilmobilisierung deshalb nun als ein Zeichen dafür ein, dass Putin sein Land in eine aussichtslose Lage manövriert hat. Der Kreml selbst spricht von knapp 6.000 gefallenen russischen Soldaten, unabhängige Schätzungen liegen weit darüber.

Experte: "Putins permanentes Unterschätzen des ukrainischen Widerstandswillens könnte wieder zugeschlagen haben"

Auch jetzt schätzt Gressel die Risiken für Putin als gross ein: "Es ist ein sehr hoher Einsatz, den Putin damit eingeht. Es ist nicht sicher, dass es für ihn gut läuft", kommentiert er. Wenn die Ukraine die vorhandenen russischen Streitkräfte bald schlage, habe die russische Armee ein horrendes Problem. "Putins permanentes Unterschätzen des ukrainischen Widerstandswillens könnte wieder zugeschlagen haben", sagt Gressel.

Experten schätzen deshalb, dass mit der Massnahme der Unmut gegenüber Putins Politik zunehmen wird. "Es hängt nun sehr viel davon ab, wen er genau schickt und wie er das Ganze angeht", erklärt Gressel. Noch seien zu wenig Informationen öffentlich, um ein fundiertes Urteil zu fällen.

Geringe Chancen für russische Offensive

"In erster Linie sollen die 300.000 Mann wohl erst ausgebildet und dann in die Ukraine geschickt werden", sagt Gressel. Damit wolle man eine Ablösung erzwingen und die eigenen Kräfte regenerieren. "Sollte das so sein, erwachsen daraus aber keine grossartig neuen Chancen für eine Offensive", urteilt Gressel.

Die mobilisierten Soldaten müssten schliesslich geführt werden, sie bräuchten eine Kommandostruktur: "Wenn man die verbliebenen Streitkräfte heranzieht, um diese Leute zu führen, fehlen sie an anderer Stelle: Eigentlich bilden sie Rekruten aus und sind für die Aufbaufähigkeit der russischen Armee zuständig." Damit habe man eine spätere Generalmobilmachung unmöglich gemacht, weil die notwendige Struktur fehle.

"In jedem Fall bedeutet der Schritt eine Verlängerung des Krieges", sagt Gressel. Die russische Niederlage sei durch die Mobilisierung noch nicht abgewendet. "Das wird sich über die Zeit des nächsten Jahres herausstellen", meint der Experte. Stehe aber dann wieder eine Niederlage kurz bevor, seien die Konsequenzen für Putin noch dramatischer: "Dann hat er noch mehr Mittel investiert und sein Prestige hat noch mehr gelitten."

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Über den Experten: Gustav Gressel ist Experte für Sicherheitspolitik, Militärstrategien und internationale Beziehungen. Er absolvierte eine Offiziersausbildung und studierte Politikwissenschaft an der Universität Salzburg. Schwerpunktmässig befasst sich Gressel mit Osteuropa, Russland und der Aussenpolitik bei Grossmächten.
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